Entscheidungsstichwort (Thema)

Massenentlassungen im Bereich der Fluggastabfertigung. Wirksame Massenentlassungsanzeige bei Verhandlungsangebot im Rahmen der Einigungsstelle und glaubhaften Darlegungen der Arbeitgeberin zur Unterrichtung des Betriebsrats

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Gemäß § 17 Abs. 2 Satz 2 KSchG muss die Arbeitgeberin mit dem Betriebsrat die Möglichkeiten beraten, Entlassungen zu vermeiden oder einzuschränken und ihre Folgen abzumildern. Die Pflicht zur Beratung im Sinne des § 17 Abs. 2 Satz 2 KSchG geht über eine bloße Anhörung deutlich hinaus, so dass die Arbeitgeberin mit dem Betriebsrat über die Entlassungen oder die Möglichkeiten ihrer Vermeidung ernstlich zu verhandeln oder ihm dies zumindest anzubieten hat.

2. Hat die Arbeitgeberin im letzten Absatz ihres Unterrichtungsschreibens auf die Verhandlungen in der Einigungsstelle Bezug genommen und als Bestandteil dieser Beratungen die Möglichkeit der Errichtung einer Transfergesellschaft bezeichnet, über die sie in der Einigungsstelle weiter verhandeln will, hat sie dem Betriebsrat Konsultationen für einen Teilbereich der Betriebsänderung gemäß § 17 Abs. 2 KSchG konkret angeboten. Die in § 17 Abs. 2 KSchG vorgesehenen Konsultationen müssen sich nicht auf die Vermeidung oder Beschränkung der Massenentlassungen beziehen sondern können auch die Möglichkeit betreffen, die Folgen solcher Entlassungen durch soziale Begleitmaßnahmen zu mildern, wozu auch die Zahlungen von Abfindungen oder die Einrichtung einer Transfergesellschaft zählen.

3. Konsultationen gemäß § 17 Abs. 2 KSchG können die Betriebsparteien auch im Rahmen eines Einigungsstellenverfahrens über einen Interessenausgleich und Sozialplan durchführen, jedenfalls soweit der Regelungsgegenstand in der Einigungsstelle eröffnet ist und hinreichend deutlich wird, welche Verfahren durchgeführt werden sollen. Auch wenn es sich bei der betriebsverfassungsrechtlichen Einigungsstelle um eine Art "unparteiischen Dritten" handelt, steht die Einigungsstelle nicht außerhalb der Betriebsverfassung sondern ist ein von Betriebsrat und Arbeitgeberin gemeinsam gebildetes Organ der Betriebsverfassung, dem kraft Gesetzes gewisse Befugnisse zur Beilegung von Meinungsverschiedenheiten übertragen sind und die ersatzweise Funktionen der Partner wahrnimmt.

4. Eine Massenentlassungsanzeige ist gemäß § 17 Abs. 3 Satz 3 KSchG ordnungsgemäß erstattet, wenn die Arbeitgeberin glaubhaft macht, dass sie den Betriebsrat mindestens zwei Wochen vor Erstattung der Anzeige gemäß § 17 Abs. 2 Satz 1 KSchG unterrichtet hat, und den Stand der Beratungen mit dem Betriebsrat zutreffend dargelegt.

 

Normenkette

KSchG § 1 Abs. 2, § 17; BetrVG § 113 Abs. 3; KSchG § 1 Abs. 2 S. 1 Alt. 3, § 17 Abs. 2 Sätze 1-2, Abs. 3 S. 3; BetrVG §§ 76, 111

 

Verfahrensgang

ArbG Berlin (Entscheidung vom 01.12.2015; Aktenzeichen 36 Ca 2066/16)

 

Tenor

I. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Arbeitsgerichts Berlin vom 01.12.2015 - 36 Ca 2066/15 - teilweise abgeändert und die Klage insgesamt abgewiesen.

II. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Berlin vom 01.12.2015 - 36 Ca 2066/15 - wird zurückgewiesen.

III. Die Klägerin hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.

IV. Die Revision wird für die Klägerin zugelassen.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten um die Wirksamkeit zweier ordentlicher betriebsbedingter Kündigungen und über einen hilfsweise geltend gemachten Anspruch der Klägerin auf Zahlung eines Nachteilsausgleichs.

Die bei Zugang des Kündigungsschreibens 44-jährige Klägerin, die verheiratet und drei Kindern unterhaltsverpflichtet ist, war seit dem Jahr 1991 bei der Beklagten und ihrer Rechtsvorgängerin beschäftigt, zuletzt in Teilzeit als Mitarbeiterin im Bereich Passage am Flughafen Berlin-Tegel gegen eine monatliche Vergütung von 1.319,00 € brutto.

Die im Jahr 2011 gegründete Beklagte erbrachte seit Mai 2012 Passagedienstleistungen auf den Flughäfen Berlin-Tegel und Schönefeld für ihre alleinige Auftraggeberin, die G. Berlin GmbH & Co. KG (GGB), die zugleich Kommanditistin der Beklagten und allein stimmberechtigte Gesellschafterin ist. Die Beklagte und die GGB gehören zur W.-Gruppe, die etwa 80 % der Bodendienstleistungen am Flughafen Berlin-Tegel erbringt. Die GGB führte als Rechtsvorgängerin der Beklagten sämtliche Vorfeld- und Passagedienstleistungen an den Flughäfen Tegel und Schönefeld mit ihrem Betrieb durch. Sie spaltete ihren Betrieb im Jahr 2011 in die vier Bereiche Verwaltung, Passage, Vorfeld und Werkstatt mit jeweils rechtlich eigenständigen Betrieben auf, von denen die Beklagte seit Mai 2012 die Passagedienstleistungen übernahm. Im Juni 2014 spaltete die Beklagte ihren Betrieb in die Betriebsteile Tegel und Schönefeld auf und übertrug den Betriebsteil Schönefeld im Wege eines Betriebsüberganges auf eine neu gegründete Gesellschaft. Die GGB beschäftigt neben der Geschäftsführerin keine Arbeitnehmer mehr, die Beklagte beschäftigte zuletzt etwa 190 Arbeitnehmer. Komplementärinnen der Beklagten und der GGB sind jeweil...

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