Entscheidungsstichwort (Thema)

Wirksamkeit der Kündigung bei Betriebsstilllegung eines Luftverkehrbetriebes. Unwirksamkeit der Kündigung bei Betriebsübergang. Abgrenzung zwischen Betriebsstilllegung und Betriebsübergang. Wirtschaftliche Einheit bei einem Luftverkehrsbetrieb. Massenentlassungsanzeige und Interessenausgleich bei Kündigung. Zuständiges Arbeitsamt für Massenentlassungsanzeige

 

Leitsatz (amtlich)

1. Arbeitgeber*innen dürfen eine Entscheidung oder eine Maßnahme, die sie unmittelbar zwingt, eine Massentlassung vorzunehmen, erst treffen, wenn das Konsultationsverfahren nach § 17 Abs. 2 KSchG abgeschlossen ist. Eine derartige Entscheidung oder Maßnahme kann auch die unwiderrufliche Freistellung oder Kündigung anderer Arbeitnehmer*innen sein, die für die Fortführung des Betriebs notwendig sind.

2. "Betriebsrat" iSv. § 17 Abs. 2 KSchG sind auch eine nach § 117 Abs. 2 BetrVG aufgrund Tarifvertrags gebildete Personalvertretung sowie die Schwerbehindertenvertretung nach § 177 SGB IX.

3. Eine Massenentlassungsanzeige ist unwirksam, wenn der oder die Arbeitgeber*in gegenüber der Agentur für Arbeit den Stand der Beratungen mit dem Betriebsrat irreführend darstellt. Eine irreführende Darstellung ist ua. gegeben, wenn er oder sie angibt, die beabsichtigte Massenentlassung mit dem Betriebsrat beraten zu haben, obwohl tatsächlich nur ein Austausch über die erforderlichen Informationen stattgefunden hat.

 

Normenkette

RL 98/59/EG Art. 1 Abs. 1 Buchst. b), Art. 2; KSchG § 17 Abs. 1 S. 1, Abs. 2, 3 Sätze 2-3; SGB IX § 177; TV Personalvertretung Kabine Air Berlin; KSchG § 4; ZPO § 167

 

Verfahrensgang

ArbG Berlin (Entscheidung vom 17.10.2018; Aktenzeichen 29 Ca 7553/18)

 

Tenor

I. Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Arbeitsgerichts Berlin vom 17. Oktober 2018 - 29 Ca 7553/18 - teilweise abgeändert:

Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung des Beklagten vom 14. Mai 2018 nicht aufgelöst worden ist.

II. Die Kosten der I. Instanz haben die Klägerin zu 14,29 % und der Beklagte zu 85,71 % zu tragen. Die Kosten des Berufungsverfahrens hat der Beklagte zu tragen.

III. Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten im Berufungsverfahren noch über die Wirksamkeit einer betriebsbedingten Kündigung wegen Betriebsstilllegung, hilfsweise über den Übergang ihres Arbeitsverhältnisses auf ein anderes Unternehmen bereits vor dem Ausspruch der Kündigung sowie höchsthilfsweise über Nachteilausgleichs- und Krankengeldzuschussansprüche.

Der Beklagte ist der Insolvenzverwalter über das Vermögen der A. Berlin PLC Co. Luftverkehrs KG (im Folgenden: Schuldnerin).

Die am .... 1972 geborene, einem schwerbehinderten Menschen gleichgestellte Klägerin (im Folgenden: klagende Partei) war als Flugbegleiterin seit dem 14. Oktober 1994 zunächst bei der L. Lufttransport-Unternehmen GmbH, später L. International A. GmbH (im Folgenden: L.) und infolge der vollständigen Verschmelzung der L. auf die Schuldnerin ab dem 1. April 2011 bei dieser gegen eine monatliche Bruttovergütung von zuletzt 3.026,97 Euro beschäftigt und in München stationiert. Im September 2017 verdiente sie 2.103,50 Euro netto. Ab dem 16. Oktober 2017 bis zum 31. Juli 2018 war sie arbeitsunfähig krank und bezog ab dem 1. November 2017 Krankengeld in Höhe von monatlich 1.322,24 Euro netto.

Bei der Schuldnerin handelte es sich bis zu ihrer Insolvenz im August 2017 um die zweitgrößte deutsche Fluggesellschaft mit Sitz in Berlin, die unter ihrem Luftverkehrsbetreiberzeugnis (Air Operator Certificate, AOC) von ihren Drehkreuzen Düsseldorf und Berlin-Tegel hauptsächlich Ziele in ganz Europa, Nordafrika und Israel sowie interkontinental Städte in Nord- und Mittelamerika anflog. Außerdem war sie bzw. ihre Komplementärin, die A. Berlin PLC, alleinige Eigentümerin der österreichischen Ferienfluggesellschaft N. Luftfahrt GmbH (im Folgenden: N.) mit Sitz in Wien sowie der Luftfahrtgesellschaft W. mbH (im Folgenden: LGW) mit Sitz in Dortmund. Das fliegende Personal der Schuldnerin war in Deutschland an den Flughäfen Berlin-Tegel, Düsseldorf, München, Frankfurt, Nürnberg, Stuttgart, Leipzig, Köln, Hamburg und Paderborn stationiert.

Für den Flugbetrieb nutzte die Schuldnerin ausschließlich geleaste Flugzeuge. Nach den Angaben des Beklagten hatte sie im August 2017 insgesamt etwa 151 und am Stichtag 12. Oktober 2017 insgesamt 132 Flugzeuge im Einsatz. Außerdem verfügte sie über die dafür erforderlichen Slots. Slots (Zeitnischen) berechtigen ein Luftfahrtunternehmen an einem Flughafen, dessen Kapazitäten eine Koordinierung erforderlich machen (koordinierter Flughafen), an einem bestimmten Tag zu einer bestimmten Zeit zu starten oder zu landen.

Im August 2017 beschäftigte die Schuldnerin insgesamt 6.121 Arbeitnehmer*innen (im Folgenden: Beschäftigte), davon 1.318 im Bereich Cockpit, 3.362 im Bereich Kabine und 1.441 am Boden. Das Bodenpersonal, darunter auch die für den Erhalt der AOC unverzichtbaren verantwortlichen Personen ("nominated persons"), arbe...

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