Entscheidungsstichwort (Thema)

Wirksamkeit der verhaltensbedingten Kündigung des Arbeitsverhältnisses wegen Verletzung der Anzeigepflicht einer Erkrankung

 

Leitsatz (amtlich)

Auch bei einer fortdauernden Arbeitsunfähigkeit ist der Arbeitnehmer nach § 5 EFZG verpflichtet, dies gegenüber seinem Arbeitgeber anzuzeigen. Ein etwaiger Verstoß durch den Arbeitnehmer im Falle einer fortdauernden Erkrankung wiegt jedoch im Regelfall weniger schwer als eine fehlende oder verspätet erfolgte Anzeige bei der erstmaligen Erkrankung. Im Falle einer verhaltensbedingten Kündigung ist dies bei der im Rahmen von § 1 Abs. 2 KSchG durchzuführenden Interessenabwägung zu berücksichtigen.

 

Normenkette

EFZG § 5

 

Verfahrensgang

ArbG Ulm (Entscheidung vom 18.10.2018; Aktenzeichen 8 Ca 375/17)

 

Nachgehend

BAG (Urteil vom 07.05.2020; Aktenzeichen 2 AZR 619/19)

 

Tenor

  1. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des ArbG Ulm, Kn. Ravensburg, vom 18. Oktober 2018 (8 Ca 355/17) wird zurückgewiesen.
  2. Die Kosten der Berufung trägt die Beklagte.
  3. Die Revision für die Beklagte wird nicht zugelassen.
 

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer ordentlichen verhaltensbedingten Kündigung und um die Weiterbeschäftigung des Klägers.

Der 45-jährige ledige Kläger ist seit dem 1. Oktober 2007 bei der Beklagten, bei der ein Betriebsrat besteht, als Lagerist mit einem durchschnittlichen Bruttomonatseinkommen in Höhe von 3.300,00 EUR beschäftigt. Der Kläger ist durchgängig seit Juli 2016 arbeitsunfähig krankgeschrieben wegen eines Bandscheibenleidens.

Bei der Beklagten existiert eine Betriebsordnung, in welcher das Prozedere der gesetzlichen Anzeige- und Nachweispflichten bei Erkrankung geregelt ist. In der Betriebsordnung heißt es auszugsweise:

"10.2 Erkrankung/Arbeitsausfall/Arbeitsverhinderung

Können Sie wegen Erkrankung oder aus einem anderen unvorhergesehenen Grund die Arbeit nicht aufnehmen, verständigen Sie bitte unverzüglich - am ersten Arbeitstag zum Beispiel telefonisch mit Angabe der Gründe und der voraussichtlichen Dauer - Ihren Vorgesetzten. Die Meldung an die Krankenkasse gilt nicht als Entschuldigung. Soweit Ihre Arbeitsverhinderung vorhersehbar ist (z. B. Operation, Heilverfahren) informieren Sie bitte ebenfalls umgehend Ihren Vorgesetzten.

10.3 Nachweis bei Erkrankung

Wenn Sie arbeitsunfähig krank sind, reichen Sie bitte fristgerecht unter Beachtung der gesetzlichen und tariflichen Bestimmungen nach Beginn der Arbeitsunfähigkeit eine ärztliche Bescheinigung über die Arbeitsunfähigkeit sowie deren voraussichtlichen Dauer nach."

Die Beklagte hat gegenüber dem Kläger mehrere schriftliche Abmahnungen ausgesprochen. Mit der Abmahnung vom 12. September 2014 wirft die Beklagte dem Kläger vor, dieser habe am 15. Juli 2014 in Aussicht gestellt, eine erstrebte Arbeitsfreistellung am 18. Juli 2014 ohne Rücksicht darauf erreichen zu wollen, ob eine Arbeitsunfähigkeit tatsächlich vorliegen wird. Der der Abmahnung zugrundeliegende Sachverhalt blieb zwischen den Parteien streitig.

Mit Schreiben vom 9. November 2016 wurde der Kläger durch die Beklagte auf seine Anzeigepflichten im Krankheitsfall hingewiesen. Insbesondere wurde ihm dargelegt, dass er verpflichtet ist, seinem Vorgesetzten bzw. dessen Stellvertreter unverzüglich mitzuteilen, wenn eine Arbeitsunfähigkeit besteht. Ferner wurde er darauf hingewiesen, dass die voraussichtliche Dauer der Erkrankung mitgeteilt werden muss. Er wurde auch darauf hingewiesen, dass das Abgeben bzw. das Zusenden einer ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung grundsätzlich die Verpflichtung zur unverzüglichen Anzeige einer Arbeitsunfähigkeit nicht wahrt, da diese dem Vorgesetzten nicht am ersten Tag der Arbeitsunfähigkeit bzw. deren Verlängerung vor Kernzeitbeginn vorliegen kann. Ebenfalls wurde in dem Schreiben dargestellt, dass diese Grundsätze nicht nur bei einer Ersterkrankung, sondern auch bei einer Fortdauer der Erkrankung über den ursprünglich bescheinigten Zeitraum hinaus gelten. Der Kläger bestreitet den Erhalt dieses Schreibens.

Gegenstand der Abmahnung vom 11. Januar 2017 ist folgender Sachverhalt: Nach der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vom 12. Dezember 2016 war der voraussichtliche letzte Tag der Arbeitsunfähigkeit Freitag, der 16. Dezember 2016. Für die Zeit von Montag, den 19. Dezember 2016, bis Freitag, den 23. Dezember 2016, hatte der Kläger genehmigten Urlaub. Vom 27. Dezember 2016 bis 30. Dezember 2016 ist der Kläger nicht zur Arbeit erschienen. Am 31. Dezember 2016 und 1. Januar 2017 war aufgrund Silvester bzw. Neujahr keine Arbeitsleistung geschuldet. In der Abmahnung vom 11. Januar 2017 wurde dem Kläger vorgeworfen, vom 27. Dezember bis 30. Dezember 2016 ohne Angabe von Gründen nicht zur Arbeit erschienen zu sein.

Mit den Abmahnungen vom 10. März 2017 und 15. März 2017 wirft die Beklagte dem Kläger vor, ihr die Folgearbeitsunfähigkeitsbescheinigungen verspätet zugeleitet zu haben. Durch Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen wurden eine Arbeitsunfähigkeit bis zum 26. Februar 2017 bzw. zum 8. März ...

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