Entscheidungsstichwort (Thema)

Einwirkung des Grundrechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit auf das Vollstreckungsschutzverfahren

 

Leitsatz (amtlich)

1. Unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Einwirkung der Grundrechte auf das Räumungsschutzverfahren nach § 765 a ZPO ist den Vorbringen des Schuldners, ihm drohten bei einer Zwangsräumung schwerwiegende Grundrechtsbeeinträchtigungen (hier: Suizidgefahr infolge einer psychischen Erkrankung) besonders sorgfältig nachzugehen, gegebenenfalls durch Einholung ärztlicher Gutachten. Erst nach vollständiger Sachaufklärung in dieser Richtung ist unter Würdigung der Belange beider Parteien abzuwägen, ob und für welche Zeit Vollstreckungsschutz zu gewähren ist.

2. Ein den dritten Rechtszug eröffnender Verstoß gegen wesentliche Vorschriften des Beschwerdeverfahrens und damit ein heuer selbständiger Beschwerdegrund in der landgerichtlichen Beschwerdeentscheidung gegenüber der Entscheidung des Amtsgerichts liegt auch dann vor, wenn beide Vorinstanzen bei ihren Entscheidungen in erheblichem Maße ihre Aufklärungspflicht verletzt haben.

 

Normenkette

GG Art. 2 Abs. 2 S. 1; ZPO § 765a

 

Verfahrensgang

LG Berlin (Beschluss vom 01.03.1995; Aktenzeichen 81 T 157/95)

AG Berlin-Tiergarten (Aktenzeichen 34 M 8015/94)

 

Tenor

Der angefochtene Beschluß wird aufgehoben, soweit die Erstbeschwerde des Schuldners kostenpflichtig zurückgewiesen worden ist.

Insoweit wird die Sache zur erneuten Entscheidung auch über die Kosten des Verfahrens der sofortigen weiteren Beschwerde an das Landgericht Berlin zurückverwiesen.

 

Gründe

Durch ein inzwischen rechtskräftiges Urteil des Amtsgerichts Tiergarten vom 14. Oktober 1993 ist der Schuldner verurteilt worden, seine Wohnung zu räumen. Der Schuldner hat unter Vorlage von Attesten seines behandelnden Arztes – eines Nervenarztes – von August 1994 um Einstellung der Zwangsvollstreckung nachgesucht. Nach diesen Attesten leide der Schuldner an einer depressiven Störung mit psychosomatischer Symptombildung; er sei bei einer Zwangsräumung suizidgefährdet. Das Amtsgericht – Rechtspfleger – hat dem Schuldner zunächst Räumungsschutz bis Ende Oktober 1994 bewilligt und ihm aufgegeben, ein amtsärztliches neurologisches Gutachten darüber einzureichen, ob und gegebenenfalls welche gesundheitlichen Folgen eine alsbaldige Räumung auslösen würde. Auf die hiergegen gerichtete Erinnerung der Gläubigerin ist der erwähnte Beschluß als einstweilige Anordnung angesehen worden, worauf – hin der Richter des Amtsgerichts die Erinnerung als unbegründet zurückgewiesen hat. Der Sozialpsychiatrische Dienst des Bezirksamts Tiergarten – Abteilung Gesundheit und Umweltschutz – hat mit einem Schreiben vom 29. September 1994 gegenüber dem Amtsgericht dahingehend Stellung genommen, daß es aus ärztlicher Sicht erforderlich sei, auf die Räumung der Wohnung innerhalb der nächsten sechs Monate zu verzichten, um eine Verschlechterung des Gesundheitszustandes des Schuldners zu vermeiden. In einem ergänzenden Schreiben der erwähnten Stelle an das Amtsgericht Tiergarten ist ausgeführt, aus mit dem Schuldner geführten Gesprächen sei deutlich geworden, daß er zur Zeit psychisch labil und zu befürchten sei, daß er „auf eine Räumung mit akuten suizidalen Handlungen reagieren würde”; auf die Räumung solle aus ärztlicher Sicht unbedingt innerhalb der nächsten sechs Monate verzichtet werden; gegebenenfalls solle danach eine erneute ärztliche Untersuchung anberaumt werden.

Das Amtsgericht – Rechtspfleger – hat daraufhin gegenüber der erwähnten Stelle des Bezirksamts darauf hingewiesen, daß die Stellungnahmen für das gerichtliche Verfahren unzureichend seien; die Stellungnahmen hätten weder die Qualität eines ärztlichen Gutachtens noch seien sie als amtsärztliche Verlautbarungen zu werten; damit habe der Schuldner die ihm erteilte Auflage nicht erfüllt. Mit einem Schreiben vom 28. Oktober 1994 teilte der Sozialpsychiatrische Dienst dem Amtsgericht mit, daß der Schuldner an einer depressiven Neurose bei zwanghafter Persönlichkeit leide und latent suizidal sei; eine Zwangsräumung würde ihn in den Suizid treiben; ein ausführliches neurologisch-psychiatrisches Gutachten würde zu keinem anderen Ergebnis führen; ein solches Gutachten würde auch die Kapazitäten der im Sozialpsychiatrischen Dienst tätigen Ärzte sprengen.

Das Amtsgericht – Rechtspfleger – hat mit Beschluß vom 17. November 1994 dem Schuldner „Räumungsschutz” bis zum 15. Februar 1995 bewilligt und zur Begründung ausgeführt, die Maßnahme sei nach den Stellungnahmen des Sozialpsychiatrischen Dienstes angesichts des Gesundheitszustandes des Schuldners geboten; an der Nichtvorlage eines amtsärztlichen Gutachtens treffe den Schuldner kein Verschulden. Der hiergegen gerichteten Erinnerung der Gläubigerin hat der Richter des Amtsgerichts nicht abgeholfen und die Erinnerung dem Landgericht als sofortige Beschwerde zur Entscheidung vorgelegt. Das Landgericht hat mit Beschluß vom 8. Februar 1995 unter Änderung der angefochtene...

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