Entscheidungsstichwort (Thema)

EU-Zivilprozessrecht: Aussetzung eines Klageverfahrens wegen gegenläufiger negativer Feststellungsklage vor einem englischen Gericht

 

Leitsatz (amtlich)

1. Zur Frage, ob eine Klage aus einem zur Insolvenzvermeidung ausgestellten Comfort Letter eine unmittelbar aus einem Insolvenzverfahren hervorgehende und damit in engem Zusammenhang stehende Klage iSv. Art. 6 Abs. 1 InsVfVO darstellt (zu B.I.).

2. Ein Gericht in England, vor dem vor Ablauf des Übergangszeitraums nach Art. 126 Austrittsabkommen ein gerichtliches Verfahren eingeleitet worden ist, ist im Übergangszeitraum und auch danach als das "Gericht eines Mitgliedstaates" im Sinne des Art. 31 Abs. 2 EuGVVO zu behandeln (zu II.2.).

3. Zur Frage, inwieweit ein nach Art. 25 EuGVVO möglicherweise derogiertes Gericht bei der Anwendung des Art. 31 Abs. 2 EuGVVO prüfen darf, ob die fragliche Gerichtsstandsvereinbarung tatsächlich zur ausschließlichen Zuständigkeit eines anderen Gerichts führt (sog. umgekehrte Torpedoklage, zu IV.1.).

4. Es sind auch solche Gerichte im Sinne des Art. 31 Abs. 2 EuGVVO ausschließlich zuständig, deren Zuständigkeit durch eine asymmetrische, also einseitig begünstigende Gerichtsstandsklausel begründet wird (zu IV.2.b.).

5. Es sind auch solche Gerichte im Sinne des Art. 31 Abs. 2 EuGVVO ausschließlich zuständig, deren Zuständigkeit durch eine Gerichtsstandsklausel begründet wird, die nur die Gerichte eines Mitgliedstaats als solche als zuständig benennt (zu IV.2.c.).

 

Normenkette

Austrittsabkommen Art. 67 Abs. 1, Art. 126-127; BGB §§ 145, 241 Abs. 2, § 280 Abs. 1, § 311 Abs. 2 Nr. 1; EuGVVO Art. 1 Abs. 2 lit. b), Art. 6 Abs. 1, Art. 25 Abs. 1, Art. 31 Abs. 2; InsVfVO Art. 6 Abs. 1

 

Verfahrensgang

LG Berlin (Beschluss vom 13.05.2020; Aktenzeichen 95 O 60/18)

 

Nachgehend

BGH (Beschluss vom 15.06.2021; Aktenzeichen II ZB 35/20)

 

Tenor

Die sofortige Beschwerde des Klägers gegen den Beschluss der Kammer für Handelssachen 95 des Landgerichts Berlin vom 13. Mai 2020, Geschäftsnummer 95 O 60/18, wird auf seine Kosten zurückgewiesen.

Die Rechtsbeschwerde wird zugelassen.

 

Gründe

A. Der Kläger ist Verwalter in dem Insolvenzverfahren über das Vermögen der A. B. plc. i.L. (fortan: Schuldnerin), die - auch in ihrer Eigenschaft als Komplementärin der A. B. plc. & Co. KG - eine Luftfahrtgesellschaft betrieb. Die Beklagte ist eine Aktiengesellschaft nach dem Recht der Vereinigten Arabischen Emirate. Sie erwarb bis zum Dezember 2011 Geschäftsanteile der Schuldnerin im Umfang von 29,21 %. In einem am 19. Dezember 2011 mit der Schuldnerin abgeschlossenen "Investment Agreement" ist zu Ziffer 28.1 die Anwendbarkeit englischen Rechts und zu Ziffer 28.2 vorgesehen (Anlage B5): "The English Courts shall have exclusive jurisdiction in relation to all disputes (...) arising out of or in connection with this Agreement (...)"

In der Folgezeit stellte die Beklagte der Schuldnerin verschiedentlich Liquidität zur Verfügung. Im Jahr 2017 bestand wiederum Liquidität- und Finanzierungsbedarf der Schuldnerin, die entsprechende Anfragen an die Beklagte richtete. Die mit dem Jahresabschluss der Schuldnerin für 2016 befasste Abschlussprüferin K. avisierte, es sei eine Zusage der Beklagten zur Anschlussfinanzierung von am 19. April 2018 im Umfang von EUR 225 Mio. fällig werdenden Unternehmensanleihen (Corporate Bonds) erforderlich; widrigenfalls müsse sie in den Bestätigungsvermerk einen Hinweis (Emphasis of Matter) aufnehmen, dem zufolge erhebliche Zweifel an der Fähigkeit der Gruppe und der Muttergesellschaft zur Unternehmensfortführung bestünden (Anlage K14).

Mit Datum vom 28. April 2017 schlossen die Schuldnerin als Darlehensnehmerin (Borrower) und die Beklagte als Darlehensgeberin (Lender) einen Darlehensvertrag (Facility Agreement) über einen Betrag von EUR 350 Mio. nebst Auszahlungsplan (Anlage K26). Zu Ziffer 32. des Darlehensvertrages bestimmten dessen Parteien die Anwendbarkeit englischen Rechts. Ferner heißt es zu Ziffer 33. "Enforcement" u.a.:

"33.1 Jurisdiction

33.1.1 The courts of England shall have exclusive jurisdiction to settle any dispute arising out of or in connection with this Agreement (including a dispute relating to non-contractual obligations arising from or in connection with this Agreement, or a dispute regarding the existence, validity or termination of this Agreement) (a 'Dispute').

33.1.2 The Parties agree that the courts of England are the most appropriate and convenient to settle Disputes and accordingly no Party will argue to the contrary.

33.1.3 This clause is to the benefit of the Lender only. As a result, the Lender shall not be prevented from taking proceedings relating to a Dispute in any other courts with jurisdiction. To the extent allowed by law, the Lender may take concurrent proceedings in any number of jurisdictions."

Ebenfalls am 28. April 2017 unterzeichnete der CEO der Beklagten unter deren Briefkopf ein Schreiben an die Geschäftsführer der Schuldnerin wie folgt (fortan: Comfort Letter):

"Gentlemen,

For the purpose ...

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