Entscheidungsstichwort (Thema)

Gleichstellung eines behinderten Lehrers. Zugang zum Beamtenverhältnis. Diskriminierungsverbot. Arbeitsplatzgefährdung bei Möglichkeit eines Angestelltenverhältnisses. rechtlich-funktionaler Bedeutungsgehalt des Arbeitsplatzes. Zeitpunkt der Beurteilung der Gleichstellung. Dienstfähigkeit. Prognose

 

Orientierungssatz

1. Nach den Art 21 und Art 26 EUGrdRCh, Art 5 EGRL 78/2000, Art 3 Abs 3 S 2 GG sowie §§ 7, 8, 24 AGG iVm § 9 BeamtStG, § 8 BG HE ist ein diskriminierungsfreier Zustand nicht bereits dann hergestellt, wenn ein behinderter Mensch in irgendeiner Weise eine Tätigkeit ausüben kann, die regelmäßig im Beamtenverhältnis ausgeübt wird (hier Lehrer im Angestelltenverhältnis); vielmehr müssen Gesetzgeber und Dienstherr die Voraussetzungen zum Zugang zum Beamtenverhältnis in einer Weise modifizieren, dass ein diskriminierungsfreier Zugang zur Ausübung der Tätigkeit gerade im Beamtenverhältnis ermöglicht wird.

2. Im Rahmen des § 2 Abs 3 SGB 9 ist auch auf die rechtlich-funktionalen Qualitäten des Arbeitsplatzes, abzustellen (vgl BSG vom 1.3.2011 - B 7 AL 6/10 R = BSGE 108, 4 = SozR 4-3250 § 2 Nr 4).

3. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung einer Gleichstellung ist wegen der Rückwirkung zum Antragszeitpunkt und des Charakters der Prognoseentscheidung in erster Linie der Zeitpunkt der Antragstellung. Allerdings müssen aufgrund der Schutzrichtung und des Zweckes der Regelung des § 2 Abs 3 SGB 9 alle wesentlichen Änderungen der Sach- und Rechtslage bis zur letzten mündlichen Verhandlung Berücksichtigung finden (vgl BSG vom 2.3.2000 - B 7 AL 46/99 R = BSGE 86, 10 = SozR 3-3870 § 2 Nr 1).

 

Normenkette

SGB IX § 2 Abs. 3, § 73; GG Art. 3 Abs. 3 S. 2; AGG §§ 7-8, 24; EUGrdRCh Art. 21, 26

 

Tenor

I. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 10. September 2012 wird zurückgewiesen.

II. Die Beklagte hat dem Kläger dessen außergerichtliche Kosten auch für das Berufungsverfahren zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Gleichstellung im Sinne von § 2 Abs. 3 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen - (SGB IX).

Der 1976 geborene Kläger ist an Multipler Sklerose (Encephalitis disseminata) erkrankt. Er war seit 2007 als Studienrat im Rahmen eines Beamtenverhältnisses auf Probe bei den Beruflichen Schulen des Werra-Meißner-Kreises in Eschwege tätig. Seit dem Ende der bis zum Maximalzeitraum verlängerten Probezeit am 21. Oktober 2012 ist er als Berufsschullehrer im Angestelltenverhältnis beschäftigt. Durch Bescheid des Hessischen Amtes für Versorgung und Soziales vom 4. Februar 2011 wurde ein Grad der Behinderung von 30 bei Berücksichtigung einer Multiplen Sklerose festgestellt.

Am 14. Februar 2011 beantragte der Kläger die Gleichstellung mit einem schwerbehinderten Menschen. Zur Begründung führte er aus, er benötige die Gleichstellung, um in ein Beamtenverhältnis auf Lebenszeit übernommen zu werden. Im Rahmen des Verwaltungsverfahrens richtete die Beklagte Anfragen an das Staatliche Schulamt des Landkreises Hersfeld/Rothenburg sowie die Personal- und Schwerbehindertenvertretung. Das Staatliche Schulamt führte im Fragebogen, eingegangen am 22. Februar 2011, aus: “Die Übernahme in das Beamtenverhältnis auf Lebenszeit ist derzeit in Gefahr, da aus ärztlicher Sicht der Eintritt vorzeitiger Dienstunfähigkeit nicht ausgeschlossen werden kann. Bei einer Schwerbehinderung oder Gleichstellung wäre eine Prognose hinsichtlich der Dienstfähigkeit für nur noch 10 Jahre zu stellen. Möglicherweise käme der Gutachter unter diesen Voraussetzungen zu einem anderen Ergebnis. Sollte die Übernahme in das Beamtenverhältnis auf Lebenszeit nicht möglich sein, würde Herr A. in einem unbefristeten Angestelltenverhältnis weiterarbeiten können.„ Der Personalrat äußerte sich in seiner Stellungnahme vom 1. März 2011 wie folgt: “Ist der Arbeitsplatz aufgrund behinderungsbedingter Auswirkung gefährdet? Ja, wenn Gleichstellung nicht berücksichtigt wird. Ist der Arbeitsplatz aus sonstigen Gründen gefährdet (wenn ja, aus welchen)? Ja, s.o. Erhaltung d. Arbeitsplatzes nur mit Übernahme ins Beamtenverhältnis. Ergänzende Angaben: Aufgrund d. Erkrankungen und evtl. Folgen, die derzeit grundsätzlich festzuhalten sind, ist eine Gefährdung des Arbeitsplatzes festzuhalten.„ Die Schwerbehindertenvertretung nahm mit Fragebogen vom 23. Februar 2011 wie folgt Stellung: “Ist der Arbeitsplatz aufgrund behinderungsbedingter Auswirkung gefährdet? Ja, krankheits- bzw. behinderungsbedingt. Ist der Arbeitsplatz aus sonstigen Gründen gefährdet (wenn ja, aus welchen)? Ja, siehe Nr. 4 (Erhaltung des Arbeitsplatzes/Übernahme ins Beamtenverhältnis). Ergänzende Angaben: Aufgrund der Erkrankung und deren evtl. Folgewirkung, die derzeit grundsätzlich festgestellt sind, ist eine akute Gefährdung des Arbeitsplatzes m.E. gegeben. Der Antrag wird daher von mir ausdrücklich befürwortet.„ Hinsichtlich des weiteren Inhalts der Fragebögen wird auf d...

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