Entscheidungsstichwort (Thema)

Arbeitnehmerüberlassung i.S.d. § 1 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 AÜG. Auslegung widersprüchlicher Vertrags- oder Rechtsbeziehungen. Primäre und sekundäre Darlegungslast im Prozess über die Arbeitnehmerüberlassung. Fiktion eines Arbeitsverhältnisses mit dem Entleiher

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Eine Überlassung zur Arbeitsleistung im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 AÜG liegt vor, wenn einem Entleiher Arbeitskräfte zur Verfügung gestellt werden, die in dessen Betrieb eingegliedert sind und ihre Arbeit allein nach Weisungen des Entleihers und in dessen Interesse ausführen.

2. Widersprechen sich die Vertrags- oder Rechtsbeziehungen zwischen den Vertragspartnern, so ist die tatsächliche Durchführung des Vertrages maßgeblich, weil sich aus der praktischen Handhabung der Vertragsbeziehungen am ehesten Rückschlüsse darauf ziehen lassen. Der so ermittelte wirkliche Wille der Vertragsparteien bestimmt den Geschäftsinhalt und damit den Vertragstyp.

3. Zwar trifft den Arbeitnehmer die primäre Darlegungslast für das Bestehen eines Arbeitsverhältnisses mit dem Entleiher, doch kennt er nicht die Vereinbarungen zwischen seinem Vertragsarbeitgeber und dem Entleiher. Deshalb ist es nach der sekundären Darlegungslast Sache des Entleihers, den Inhalt der Vereinbarungen konkret darzulegen und die Tatsachen vorzutragen, die gegen eine Arbeitnehmerüberlassung sprechen.

4. Kommt der Entleiher seiner sekundären Darlegungslast nicht nach, greift die gesetzliche Fiktion der §§ 9 Abs. 1 Nr. 1, 10 Abs. 1 AÜG ein und es besteht ein Arbeitsverhältnis mit dem Entleiher.

 

Normenkette

AÜG § 9 Nr. 1, § 10 Abs. 1 S. 1, § 1 Abs. 1 S. 1, Abs. 2; BGB § 645 Abs. 1 S. 1

 

Verfahrensgang

ArbG Darmstadt (Entscheidung vom 13.02.2019; Aktenzeichen 5 Ca 182/18)

 

Nachgehend

BAG (Urteil vom 25.07.2023; Aktenzeichen 9 AZR 278/22)

 

Tenor

Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Arbeitsgerichts Darmstadt vom 13. Februar 2019 – 5 Ca 182/18 – abgeändert.

Es wird festgestellt, dass zwischen den Parteien ein Arbeitsverhältnis besteht.

Die Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.

Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten über den Bestand eines Arbeitsverhältnisses aufgrund einer verdeckten Arbeitnehmerüberlassung.

Der Kläger war ab November 2007 bei der Firma A und danach ab Januar 2012 bei der Firma B als Systemingenieur mit einem monatlichen Bruttogehalt von zuletzt ca. € 5.000,00 beschäftigt.

Die Beklagte ist ein Automobilhersteller. Sie beauftragte die Firma B, die Steuergeräte für die von ihr produzierten Fahrzeuge zu betreuen. Zu den Aufgaben gehörten insbesondere der Einbau der passenden Softwarepakete in eine Datenbank, der Test der Steuergeräte im Büro oder am Fahrzeug in der Werkstatt sowie die wöchentliche Aktualisierung der eingebauten Fahrzeugdaten. Als Ansprechpartner stand für die Beklagte Herr C zur Verfügung, der im Rahmen der Beauftragung der Firma B bei der Beklagten als Geräteverantwortlicher eingesetzt wurde. Er erhielt vom Kläger und den übrigen Mitarbeitern der Firma B monatlich sog. Release-Letter über die erbrachten Leistungen, auf deren Grundlage die Rechnungen der Firma B erstellt wurden. Bei der Firma B fanden jährlich Mitarbeitergespräche und fünf- bis achtmal ein sogenanntes „all employee meeting“ statt.

Der Kläger wurde bei der Beklagten von Beginn an bis zum 30. April 2018 in der aus sieben Teams bestehenden Abteilung SPS (Service Programming System) als Steuergeräteverantwortlicher im Betrieb in D eingesetzt. Er wurde im Team 4 tätig, welchem folgende Mitarbeiter angehörten: E (Firma F) Teamleiter, G (Firma F), H (Fremdfirma I), J (Fremdfirma K), L (Fremdfirma I) und M (Fremdfirma I).

Die Einzelheiten der tatsächlichen Durchführung des zwischen der Beklagten und der Firma B geschlossenen Vertrages sind zwischen den Parteien streitig. Eine Arbeitszeitordnung mit Kernarbeitszeit von 10:00 Uhr bis 14:00 Uhr wurde von der Beklagten aufgrund der Betriebsvereinbarung „Gleitzeitordnung“ erstmals zum 01. Juli 2015 eingeführt. Im Falle der Arbeitsunfähigkeit informierte der Kläger sowohl die Beklagte als auch die Firma B. Von ihr wurden letztlich auch Urlaubsanträge genehmigt. Mit seiner Klage begehrt der Kläger die Feststellung, dass zwischen ihm und der Beklagten ein Arbeitsverhältnis besteht. Wegen des weiteren unstreitigen Sachverhalts, des Vortrags der Parteien im ersten Rechtszug sowie der dort gestellten Anträge wird im Übrigen auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils (Bl. 170 – 173 d. A.) Bezug genommen.

Mit dem am 13. Februar 2019 verkündeten Urteil hat das Arbeitsgericht die Feststellungsklage abgewiesen. Der Kläger – so das Arbeitsgericht – habe nicht hinreichend substantiiert das Vorliegen einer Arbeitnehmerüberlassung im Sinne des § 1 AÜG dargelegt. Wegen der weiteren Begründung im Einzelnen wird auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils (Bl. 175 R – 176 d. A.) Bezug genommen. Gegen das am 25. April 2019 zugestellte Urteil hat der Kläger am 20. Mai 2019 Beru...

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