Die Überbauvorschriften der §§ 912 bis 916 BGB kommen nur dann zur Anwendung, wenn bei der Errichtung eines Gebäudes über die Grenze zum Nachbargrundstück hinüber gebaut wird. Denn nur in diesen Fällen greifen die Motive des Gesetzgebers, wirtschaftliche Werte möglichst zu erhalten und aus diesem Grund dem Nachbarn eine Pflicht zur Hinnahme einer ansonsten nicht zu duldenden Grenzverletzung aufzuerlegen.

2.1.1 Was versteht man unter einem Gebäude?

Unter einem Gebäude wird im Allgemeinen ein Bauwerk verstanden, das nach Art seiner bautechnischen Ausgestaltung mit Dacheindeckung und Außenmauern Personen, Tieren und Sachen Schutz gegen äußere Einflüsse zu gewähren vermag und von Menschen betreten werden kann (Wohnhaus, Lagerhalle, Scheune, Schuppen, Großtierstall, Garage). Stets muss mit einem einheitlichen Gebäude über die Grenze gebaut werden. Es darf also keinesfalls so sein, dass zwei selbstständige Gebäudeteile durch die Grundstücksgrenze geschnitten werden. Ob dies der Fall ist oder nicht, bemisst sich zum einen nach der bautechnischen Beschaffenheit des Gebäudes und zum anderen nach der funktionalen Einheit (etwa einheitliche Ver- und Entsorgungsleitungen oder Zugangsmöglichkeit nur von einem Grundstück aus).[1]

Fehlende Gebäudeeigenschaft

Kein Gebäude in diesem Sinne ist etwa

  • ein Carport (seitlich offener PKW-Unterstellplatz)[2],
  • ein Taubenschlag (kann nicht von Menschen betreten werden),
  • ein Grenzzaun,
  • eine Grenzmauer,
  • eine Stützmauer (bei abfallendem Gelände),
  • eine Pergola
  • eine Wegpflasterung[3] oder
  • eine Sichtblende (im Terrassenbereich bei Doppelhaus- oder Reihenhausbebauung).

Beseitigungsanspruch bei fehlender Gebäudeeigenschaft

Werden derartige Anlagen ohne Ihre Zustimmung als Nachbar auf oder über Ihre Grundstücksgrenze hinaus errichtet, können Sie stets deren Beseitigung verlangen (§§ 903, 1004 Abs. 1 BGB).

[1] Vgl. BGH, Urteil v. 4.12.1987, V ZR 189/86, NJW-RR 1988, 458; BGH, Urteil v. 2.6.1989, V ZR 167/88, NJW-RR 1989, 1039.
[2] Vgl. hierzu OLG Karlsruhe, Urteil v. 9.9.1992, 6 U 45/92, NJW-RR 1993, 665.

2.1.2 Die Überbauvarianten

Keine Rolle spielt es, ob sich der Überbau auf der Erdoberfläche, im Luftraum (Dachtraufe, Balkone, Erker) oder unterhalb der Erdoberfläche (Fundamente, Keller, Tiefgarage) befindet. Denn nach § 905 Satz 1 BGB erstreckt sich das Grundeigentum nicht nur auf die Erdoberfläche, sondern auch auf den Luftraum über der Oberfläche und den Erdkörper unter der Oberfläche des Grundstücks mit der Folge, dass Grenzverletzungen im Umfang der durch diese Vorschrift geschützten Rechtssphäre möglich sind. Welche Varianten in Betracht kommen, zeigen die folgenden Beispiele:

Grenzüberbau auf der Erdoberfläche

Grenzüberbau im Luftraum

Grenzüberbau unter der Erdoberfläche

2.1.3 Der Zeitpunkt des Überbaus

Nach der Gesetzesformulierung in § 912 Abs. 1 BGB muss "bei der Errichtung eines Gebäudes" über die Grenze zum Nachbargrundstück gebaut worden sein. Zu einem Überbau kann es aber nicht nur bei der erstmaligen Errichtung eines Gebäudes kommen. Vielmehr gilt nach der Rechtsprechung als Überbau auch die Erweiterung eines bereits vorhandenen Gebäudes, wenn dabei erstmals über die Grenze gebaut wird.[1] Das gilt aber nicht für einen bloßen Anbau, der ohne Zerstörung besonderer wirtschaftlicher Werte wieder beseitigt werden kann.

Neigt sich die Grenzmauer eines Gebäudes erst nach seiner Errichtung über die Grenze, dann sind nach der Rechtsprechung die Überbauvorschriften der §§ 912 ff. BGB entsprechend anwendbar.[2] Dieser Fall hat durchaus praktische Bedeutung, weil bei geschlossener Bauweise im Falle des Abrisses des Nachbarhauses und seines Wiederaufbaus nicht die gesamte Baulücke genutzt werden kann, sondern die Abschlusswand zur geneigten Grenzmauer um den Umfang der Neigung zurückversetzt werden muss. Im zu entscheidenden Fall hatte die dadurch bedingte Minderfläche an Geschäfts- und Privaträumen rund 7 m² betragen, was einen entsprechend großen Nutzungsverlust zur Folge hatte.

Die Vergrößerung und Aufstockung eines vorhandenen Überbaus ist nicht schon deshalb zulässig, weil Sie den vorhandenen Überbau dulden müssen. Denn Ihre Duldungspflicht bezieht sich lediglich auf das Gebäude in dem Zustand, in dem es errichtet worden ist. Sie erstreckt sich dagegen nicht auf spätere Erweiterungen (in der Höhe oder Fläche) des vorhandenen Überbaus. Vielmehr richten sich die Rechtsfolgen eines weitergehenden Überbaus nach den gesetzlichen Vorschriften der §§ 912 ff. BGB.[3]

[2] So BGH, Urteil v. 4.4.1986, V ZR 17/85, NJW 1986, 2639.
[3] So BGH, Urteil v. 18.12.1970, V ZR 73/68, NJW 1971, 426; BGH, Urteil v. 11.4.1975, V ZR 165/73, NJW 1975, 1313.

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Deutsches Anwalt Office Premium. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge