Die moderne ärztlich assistierte Reproduktionsmedizin zeigt, dass sich Sexualität und menschliche Fortpflanzung immer mehr voneinander lösen. Es sind nicht nur die seit den 1970er Jahren geschätzten ca. 110.000 Samenspenderkinder. Hinzu kommen unzählige mit Hilfe der homologen Insemination gezeugte Kinder. Dabei soll die Kenntnis der Kinder von diesem technisierten Zeugungsvorgang zu Schwierigkeiten bei einer Identitätsbildung führen. Kinder, die auf natürliche Weise gezeugt werden, sollen dagegen "aus dem Wissen, der sexuellen Vereinigung ihrer Eltern zu entstammen, ein Maß an innerer Orientierung ziehen: Ihre Existenz ist die Folge eines Ereignisses, an dem beide Eltern simultanen, in aller Regel bewussten Anteil haben".[48] Diese psychologisch untermauerte Aussage klingt so antiquiert, wie es das deutsche Abstammungsrecht ist. Bei Sexualität und Fortpflanzung handelt es sich nämlich, worauf schon Darwin hingewiesen hat,[49] um zwei unterschiedliche Prozesse: Fortpflanzung betrifft die Vermehrung von Organismen, die auch ohne Sex vonstatten gehen kann. Sexualität bezieht sich dagegen auf den Austausch genetischer Informationen. Die Koppelung beider Aspekte bei den Menschen wie den meisten Wirbeltieren ist ökonomisch betrachtet unsinnig. Bei einem Verzicht auf Sex würde nicht nur der teilweise beträchtliche Aufwand für die Partnerwerbung und Paarung entfallen, die Eltern wären zudem nicht nur zur Hälfte, sondern zu 100 Prozent in ihrem Nachwuchs repräsentiert.[50] Die Vermehrung mittels Klonen wäre insofern eine echte Alternative. Unter dem Begriff der Haploidisierung könnten künftig vielfältige Spielarten menschlicher Fortpflanzung möglich werden.[51] Wenn die Sexualität in Zukunft von der Fortpflanzung abgekoppelt ist, entfällt auch die Dominanz der Heterosexualität.[52] Eine Entwicklung, die in Ansätzen durch die weitgehende Anerkennung der gleichgeschlechtlichen Lebensformen schon vorgezeichnet scheint. Auch die Kryokonservierung von weiblichen Eizellen wird bereits als Social Freezing für Frauen gefeiert, die sich entscheiden können, zuerst ihre Ausbildung und berufliche Karriere zu verfolgen, und sich die Möglichkeit offen halten, erst später eine Familie zu gründen.[53]

Autor: Prof. Dr. Dr. Herbert Grziwotz , Notar in Regen und Zwiesel, Honorarprofessor an der Universität Regensburg

[48] Bernard, in: "Süddeutsche Zeitung" Nr. 28 v. 2./3.2.2013, S. 6, 7. Abweichend Bernat, MedR 1986, 245, 250 unter Bezug auf englische Berichte.
[49] Darwin, in: Journal of the Proceedings of the Linnean Society of London, Vol. 6, 1862, 77 ff.; vgl. auch Jokow/Voland, APuZ 20-21/2012, 9, 10 u. Göldenboog, Wozu Sex?, 2006, S. 65 ff.
[50] Jokow/Voland, APuZ 20-21/2012, 9, 10.
[51] Silver, Das geklaute Paradies, 1998, S. 89 ff.; Hörnle, in: Joerden/Hilgendorf/Thiele (Hrsg.), Menschenwürde und Medizin, 2013, S. 765 ff. u. Göldenboog, Wozu Sex?, 2006, S. 111 ff.
[52] So zutreffend Beck, APuZ 29/2001, 3, 5. Vgl. auch Betta, Embryonenforschung und Familie, 1995, 255, die vor einer Entsexualisierung von Partnerschaft/Ehe ausgeht u. Alberoni, L' Amicizia, 1984, S. 15.
[53] Vgl. Cadenbach, in: "Süddeutsche Zeitung Magazin" Nr. 10 v. 8.3.2013, S. 43 ff.

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