Nach § 1666 Abs. 1 BGB hat das Familiengericht zum Schutz des Kindes die Maßnahmen zu treffen, die erforderlich sind, um Gefährdungen des körperlichen, geistigen oder seelischen Wohls des Kindes abzuwenden, wenn die Eltern nicht gewillt oder in der Lage sind, die Gefahr abzuwenden.

Wenn Eltern psychisch krank werden, leiden deren Kinder. Sie erleben sie über einen längeren Zeitraum oder auch immer wiederkehrend in für sie unverständlichen, extremen Gefühlszuständen. Die Eltern sind oft nicht ansprechbar oder sehr traurig. Gerade wegen ihrer Erkrankung sind die Kinder mit ihnen loyal verbunden. Die Kinder machen die Bedürfnisse der Eltern zu ihren eigenen. Sie beziehen die Krankheit häufig auf sich selbst und opfern den Eltern zuliebe ihre Kindheit. Sie versuchen ihr Leid und ihre Belastungen so gut wie es geht zu verstecken. Eltern mit psychischer Erkrankung erkennen die Belastung, denen die Kinder ausgesetzt sind, oftmals nicht. Sie reagieren in der Regel verzögert oder überhaupt nicht auf kindliche Signale. Diese Kinder benötigen daher dringend Hilfe. Da sie häufig vernachlässigt, misshandelt oder sogar sexuell missbraucht werden, muss im Einzelfall geprüft werden, ob im Interesse des Kindeswohls Maßnahmen nach den §§ 1666, 1666a BGB ergriffen werden müssen.

Bei dem Begriff des Kindeswohls handelt es sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff,[37] der im BGB nicht legal definiert ist.

Bei der Gegenüberstellung der Normen der §§ 1666 und 1697a BGB ist festzustellen, dass der Rechtsbegriff "Kindeswohl" im BGB sowohl als positiver Standard als auch als negativer Standard[38] benutzt wird: Einerseits geht es, wie die Vorschrift des § 1697a BGB zeigt, um die bestmögliche Verwirklichung des Kindeswohls, andererseits um die Abwendung von Kindeswohlgefährdung, wie den Vorschriften der §§ 1666, 1666a BGB, die den negativen Standard beschreiben, zu entnehmen ist.[39]

Die Kindeswohlkriterien ergeben sich aber nicht nur aus rechtlichen Aspekten, sondern verlangen auch die Einbeziehung außerjuristischer Erkenntnisse.[40] Der Rechtsbegriff "Kindeswohl" ist daher das "Einfallstor für neue Erkenntnisse von Psychologie, Pädagogik, Pädiatrie, Kinder- und Jugendpsychiatrie usw.".[41]

Unter familienrechtspsychologischem Aspekt ist das Kindeswohl "die für die Persönlichkeitsentwicklung eines Kindes oder Jugendlichen günstige Relation zwischen seiner Bedürfnislage und seinen Lebensbedingungen".[42]

Die inhaltliche Ausfüllung des unbestimmten Rechtsbegriffs "Kindeswohl" unterliegt den Kriterien, die die Rechtsprechung zur Konkretisierung des Kindeswohlbegriffs in den §§ 1666, 1697a BGB ausgearbeitet hat.[43]

Bereits im Jahr 1956 hat der Bundesgerichtshof[44] den juristischen Begriff des Kindeswohls bei der Entziehung des Sorgerechts nach § 1666 Abs. 1 BGB wie folgt umschrieben: Sie setzt "eine gegenwärtige, und zwar in einem solchen Maße vorhandene Gefahr voraus, dass sich bei der weiteren Entwicklung der Dinge eine erhebliche Schädigung des geistigen oder leiblichen Wohls des Kindes mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lässt".

Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts[45] liegt eine Gefährdung des Kindeswohls bei einem schwerwiegenden und erheblichen Fehlverhalten der Eltern vor, wodurch "bereits ein Schaden des Kindes eingetreten ist oder eine gegenwärtige, in einem solchen Maße vorhandene Gefahr vorliegt, dass sich bei einer weiteren Entwicklung eine erhebliche Schädigung mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lässt".[46]

Die gegenwärtig vorhandene Gefahr orientiert sich mithin an der Jetztsituation. Abgestellt wird auf die aktuelle konkrete Bedürfnislage des Kindes oder des Jugendlichen und nicht auf einen zurückliegenden oder zukünftigen Zeitpunkt.[47] Darüber hinaus müssen die (eintretenden oder schon eingetretenen)[48] Schädigungsfolgen intensiv sein. Es muss die Gefahr einer erheblichen Schädigung bestehen. Nicht jedes Versagen oder jede Nachlässigkeit der Eltern berechtigt den Staat, diese von der Pflege und Entziehung ihres Kindes auszuschalten.[49] Vielmehr muss eine erhebliche Vernachlässigung des Kindes oder ein massives Erziehungsversagen vorliegen, wenn "der Staat als Garant und als Anwalt der Subjektstellung des Kindes auftritt".[50]

Eine Kindeswohlgefährdung bei psychischer Erkrankung eines Elternteils oder beider Eltern wurde von der Rechtsprechung insbesondere in folgenden Fällen bejaht:

bei postpartaler Depression (PPD): Die Störung beginnt innerhalb von vier Wochen nach der Entbindung und kann zu sozial-emotionalen Verhaltensauffälligkeiten des Kindes führen[51]
bei drohender Schädigung des Kindes, vor allem bei einem unkontrollierten, verletzenden Verhalten gegenüber dem Kind[52]
bei der sog. Borderline-Störung[53]
bei Erziehungsunfähigkeit der Eltern oder eines Elternteils aufgrund psychischer Auffälligkeiten mit überwiegend depressiven Symptomen[54] oder bei schubweiser psychischer Erkrankung ohne Krankheitseinsicht[55]
Entzug der elterlichen Sorge bei Verdacht auf "Münchhausen-by-proxy-Syndrom"[56...

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