1. Offene Punkte

Trotz der Präzisierungen und Klarstellungen verbleiben auch nach der Reform offene Fragen, die sich erst im Verlaufe der Zeit bei der praktischen Anwendung der neuen Normen beantworten lassen werden. Mit nicht wenigen Punkte wird sich dabei auch der EuGH befassen müssen.[86]

Im Rahmen der Zuständigkeit ist insbesondere das Verhältnis zu Drittstaaten offen:[87] Unter welchen Bedingungen kann sich ein nach der Brüssel-IIb-VO zuständiges Gericht zugunsten eines Gerichts in einem Drittstaat für unzuständig erklären? Und wie ist damit umzugehen, wenn ein Mitgliedstaat eine Entscheidung aus einem Drittstaat nach seinem nationalen Recht anerkennt, ein anderer Mitgliedstaat nach seinem Recht jedoch nicht, es hinsichtlich der der Anerkennung und Vollstreckung also zu unterschiedlichen Ergebnissen in den Mitgliedstaaten kommt?

Was das Erkenntnisverfahren betrifft, so steht das Recht des Kindes zur Meinungsäußerung und -berücksichtigung nach Art. 21 Brüssel-IIb-VO im Mittelpunkt. Die Anhörungsmodalitäten sind in der Norm nicht geregelt,[88] was bedeutet, dass die Details der EuGH herauszuarbeiten haben wird,[89] insbesondere in Bezug auf die Altersgrenzen und die Fallkonstellationen, in denen ausnahmsweise von einer Anhörung des Kindes abgesehen werden kann. Es liegt nahe, dass die Gerichte in der ersten Zeit die Frage, ab wann einem Kind die erforderliche Meinungsäußerungsfähigkeit zukommt, unterschiedlich und im Sinne ihrer bisher geltenden nationalen Verfahrensbestimmungen beantworten werden.[90] Auch wer das Kind anhört – das Gericht oder ein*e Sachverständige*r – und wo die Anhörung zu erfolgen hat – im Gericht oder an einem anderen Ort, zwingend in Person oder möglicherweise über Telekommunikationsmittel – ist noch zu klären.

Bei der Vollstreckung bleibt abzuwarten, ob und wie manche Mitgliedstaaten den Wegfall des Vollstreckbarerklärungsverfahrens durch großzügigen Umgang mit den Aussetzungs- und Einstellungsgründen in Art. 56 und Art. 57 Brüssel-IIb-VO ausgleichen[91] werden, etwa durch eine unterschiedliche Beantwortung der Frage, zu welchem Zeitpunkt die neuen Umstände, aufgrund derer die Vollstreckung aus Kindeswohlgründen ausgesetzt werden kann, aufgetreten sein müssen.[92] Daneben sind taktische Verfahrensverzögerungen durch die Vollstreckungsgerichte mittels wiederholter Kindeswohlprüfungen nicht ausgeschlossen.[93] Auch hier wird der EuGH klare Rechtsprechungslinien zu entwickeln haben.

[86] Heiderhoff, IPrax 2023, 333, 339; Zirngast, in: Garber/Lugani, Die Brüssel-IIb-VO, 2022, Rn 13/31.
[87] Antomo, in: Pfeiffer/Lobach/Rapp, Europäisches Familien- und Erbrecht, 2020, S. 13, 55.
[88] Kritisch mit dem Hinweis, dass durch eine Harmonisierung der Anhörungsmodalitäten in der Norm die Rechtssicherheit und das Niveau des Schutzes des Kindes erhöht worden wäre: Flindt, NZFam 2022, 669, 675; Böhm, in: Garber/Lugani, Die Brüssel-IIb-VO, 2022, 9/67.
[89] Morawitz, FF 2022, 274, 276; Heiderhoff, IPrax 2023, 333, 338, 340.
[90] Böhm, in: Garber/Lugani, Die Brüssel-IIb-VO, 2022, 9/61.
[91] Antomo, in: Pfeiffer/Lobach/Rapp, Europäisches Familien- und Erbrecht, 2020, S. 13, 50; Mansel/Thorn/Wagner, IPRax 2020, 97, 103.
[92] Flindt, NZFam 2022, 669, 679.
[93] Flindt, NZFam 2022, 669, 680.

2. Klärung durch den EuGH

Zur Klärung dieser offenen Aspekte durch den EuGH ist das Vorlageverfahren nach Art. 267 AEUV das einschlägige Instrument, das als objektives nicht-kontradiktorisches Zwischenverfahren der einheitlichen Auslegung des Unionsrechts dient.[94]

Stellt sich vor einem mitgliedstaatlichen Gericht eine solche, soeben skizzierte Auslegungsfrage bei der Anwendung von EU-Recht, die im konkreten Verfahren entscheidungserheblich ist, kann dieses dem EuGH die Auslegungsfrage vorlegen. Letztinstanzliche nationale Gerichte sind zur Vorlage verpflichtet (Art. 267 Abs. 3 AEUV). Die Vorlagepflicht entfällt, wenn die Frage bereits vom EuGH beantwortet wurde (acte éclairé) oder wenn objektiv keine Zweifel hinsichtlich der Auslegung bestehen (acte claire). Ausnahmsweise kann auch dann von einer Vorlage abgesehen werden, wenn sich die Frage in einem nationalen Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes stellt, eine Anrufung des EuGH also nicht in Betracht kommt, weil dies dem Eilrechtsschutz zuwiderliefe.[95] Das Verfahren nach Art. 267 AEUV besteht aus einem schriftlichen Teil und in der Regel aus einem mündlichen Teil,[96] wobei aber keine formelle Beweisaufnahme stattfindet, da der EuGH nicht den Sachverhalt ermittelt, sondern sich allein mit Rechtsfragen befasst. Die Wirkung der Entscheidung des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren ist nicht ausdrücklich geregelt. Es bindet dem Zweck des Art. 267 AEUV nach das vorlegende Gericht und alle weiteren Gerichte und Behörden, die in demselben Rechtsstreit zu entscheiden haben.[97] Ob darüber hinaus eine allgemeine Bindungswirkung der Entscheidung anzunehmen ist, ist nicht vollständig geklärt, wird aber jedenfalls bei einer Ungültigkeitserklärung durch den EuGH bejaht. Darüber hinaus lässt sich eine Bindung für letztinstanzlic...

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