1. Begriffsbestimmung

Mit dem Ziel der größeren Rechtsklarheit und Rechtssicherheit[7] im Interesse des Kindes bestimmt einleitend Art. 2 Abs. 2 Nr. 6 Brüssel-IIb-VO, dass Kinder im Sinne der Verordnung alle Personen unter 18 Jahren sind. Der herrschenden Ansicht zur Brüssel-IIa-VO, dass sich der Begriff des Kindes nach dem maßgeblichen Personalstatut bestimme, wurde durch diese autonome unionsrechtliche Begriffsbestimmung eine Absage erteilt.[8] Hierdurch sollen Überschneidungen und Lücken in Bezug auf andere möglicherweise einschlägige Rechtsinstrumente wie dem Haager Adoptions- sowie dem Haager Kinderschutzübereinkommen und dem Übereinkommen über den internationalen Schutz von Erwachsenen vermieden oder zumindest reduziert werden.[9] Problematisch ist, dass in einigen Staaten außerhalb der EU die Volljährigkeit erst später als mit dem 18. Geburtstag eintritt.[10] Insofern wäre ein verbindender Ansatz vorzugswürdiger gewesen, wonach Kind im Sinne der Verordnung jede Person unter 18 Jahren ist sowie jede Person, die nach dem anwendbaren materiellen Recht minderjährig ist.[11] Denn die Geschäftsfähigkeit, also Volljährigkeit einer Person bestimmt sich gem. Art. 7 Abs. 1 S. 1 EGBGB nach ihrer Staatsangehörigkeit. Die Neuregelung in der Brüssel-IIb-VO, die für die Anwendbarkeit der Verordnung stets und ohne Ausnahme eine Person unter 18 Jahren vorsieht, hat nun zur Folge, dass ab dem 18. Geburtstag eines Kindes aus einem Staat, der einen späten Volljährigkeitseintritt kennt und das Kind also noch unter elterlicher Verantwortung steht, – auch im laufenden Verfahren – plötzlich das nationale Zuständigkeitsrecht anwendbar ist.[12] Eine Anknüpfung sowohl an den 18. Geburtstag als auch an die Volljährigkeit nach dem Personalstatut des Kindes hätte zur Folge gehabt, dass die Verordnung immer dann zur Anwendung kommt, wenn in der Sache Anlass zu einer Regelung der elterlichen Verantwortung besteht.[13] Dies wäre sowohl im Hinblick auf die Einheitlichkeit als auch im Hinblick auf den Schutz des Kindes vorzugswürdiger gewesen.

[7] Erwägungsgrund Nr. 17.
[8] Garber/Lugani, NJW 2022, 2225, 2226: Soweit Art. 4 Satz 2 HKÜ auf die Altersgrenze von 16 Jahren abstellt, bleibt es gem. Art. 22 Brüssel-IIb-VO auch im Rahmen der Brüssel-IIb-VO dabei. Entsprechend gelten die Regelungen betreffend die internationale Kindesentführung (Art. 22 bis Art. 29 Brüssel-IIb-VO) nur für Kinder bis zum Alter von 16 Jahren, vgl. Erwägungsgrund Nr. 17; hierzu auch Hüßtege, in: Thomas/Putzo, ZPO Kommentar, 44. Aufl. 2023, Art. 2 Brüssel IIb-VO Rn 10.
[9] Pachmeyr, ZJS 2023, 311, 312.
[10] Siehe für einen Überblick Mankowski, in: Staudinger, BGB, Neubearbeitung 2019, Anhang zu Art. 7 EGBGB.
[11] Antomo, in: Pfeiffer/Lobach/Rapp, Europäisches Familien- und Erbrecht, 2020, S. 13, 33.
[12] Heiderhoff, in: MüKo-BGB, 8. Aufl. 2020, Brüssel IIa-VO, Art. 2 Rn 17 f.
[13] Ähnlich bereits zu Brüssel-IIa-VO: Solomon, FamRZ 2004, 1409, 1411.

2. Zuständigkeiten

Die gesamte Neuregelung der Zuständigkeitsvorschriften zielt darauf ab, die räumliche Nähe zwischen dem Forum und dem Kind zu sichern.[14] Insofern ist es konsequent, dass nach Art. 7 Brüssel-IIb-VO die Zuständigkeit in erster Linie den Gerichten des Mitgliedstaates zufällt, in welchem das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat.

Die Ausnahmen von diesem Grundsatz basieren ebenfalls auf dem Gedanken des Kindeswohls, etwa bei rechtmäßigem Umzug (Art. 8 Brüssel-IIb-VO) oder im Fall der internationalen Kindesentführung (Art. 9 Brüssel-IIb-VO): Hier verbleibt es zunächst bei der Zuständigkeit des vor dem Ortswechsel zuständigen Gerichts, damit es nicht zu Verzögerungen in den bereits anhängigen Verfahren kommt und das bereits in die Sache eingearbeitete Gericht die Entscheidung trifft. Eine Zuständigkeitsübertragung durch das eigentlich zuständige Gericht, falls die außergewöhnlichen Umstände des Falls es erfordern, bleibt gem. Art. 12 Brüssel-IIb-VO möglich, wenn das Kind eine besondere Bindung zu einem anderen Mitgliedstaat hat, im konkreten Fall nach Einschätzung des eigentlich zuständigen Gerichts das andere Gericht aufgrund größerer örtlicher Nähe das Kindeswohl besser beurteilen kann und die Verweisung selbst keine nachteiligen Auswirkungen auf das Kindeswohl hat.[15] Bei der hier vorzunehmenden Kindeswohlprüfung sind alle verfahrensrechtlichen Aspekte zu beachten, also insbesondere auch die Belastungen, die für das Kind durch die Verzögerung und die Notwendigkeit der Wiederholung von Anhörungen entstehen können. Dies entspricht der diesbezüglichen Rechtsprechung des EuGH zur Vorgängerversion der Norm in der Brüssel-IIa-VO.[16]

In Art. 10 Brüssel-IIb-VO werden die Anforderungen an Gerichtsstandsvereinbarungen präzisiert: Diese sind nur dann möglich, wenn eine wesentliche Bindung des Kindes zu dem in der Vereinbarung gewählten Mitgliedstaat vorliegt und wenn die Wahrnehmung der Zuständigkeit durch das gewählte Gericht im Einklang mit dem Kindeswohl steht.[17] Für die wesentliche Bindung des Kindes zu dem betreffenden Mitgliedstaat werden in Art. 10 A...

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Deutsches Anwalt Office Premium. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge