Es ist zweifelhaft, ob die völlige Abschaffung des Exequaturverfahrens in diesem sensibles Handeln erfordernden Bereich des Kindschaftsrechts tatsächlich das ausdrückliche Ziel der umfassenden Stärkung des Kindeswohlschutzes fördert.[77] Denn sicherlich dienen schnellere Verfahren und größere Rechtssicherheit den Interessen des Kindes[78] – insbesondere im Hinblick auf die sehr unterschiedliche Verfahrensdauer in den jeweiligen Mitgliedstaaten von wenigen Tagen bis zu mehreren Monaten oder gar Jahren – und in Extremfällen hat der Vollstreckungsmitgliedstaat nach wie vor die Möglichkeit, einer Entscheidung die praktische Wirksamkeit zu nehmen, muss sich einer Entscheidung des Erkenntnisgerichts also nicht gänzlich und bedingungslos unterwerfen.[79]

Jedoch wird durch diese Neuregelungen das Vollstreckungsverfahren mit Erwägungen in Bezug auf die Situation und auf die Konstitution des Kindes belastet, die eigentlich ihrer Natur nach ins Hauptsacheverfahren gehören.[80] Probleme von unzureichender Prüfung und lückenhafter Sachverhaltsermittlung müssen nunmehr im Vollstreckungsverfahren aufgefangen werden.[81] Die Kritik, dass durch die Abschaffung des Exequaturverfahrens das Kindeswohl der Verfahrensökonomie untergeordnet werde,[82] ist also nicht ganz unberechtigt.

Darüber hinaus ist zu bedauern, dass die Vollstreckungsversagungsgründe in Deutschland nur auf Antrag und nicht von Amts wegen geprüft werden.[83] Die Brüssel-IIb-VO lässt dies zwar offen und verweist hierfür auf die nationalen Regelungen der Mitgliedstaaten.[84] Der deutsche Gesetzgeber hat sich aber mit § 44b Abs. 2 Satz 2 IntFamRVG für das Antragserfordernis entschieden,[85] wodurch der Schutz des Kindeswohls im Vollstreckungsverfahren letztlich maßgeblich in die Hände der Person gelegt wird, gegen die die Entscheidung vollstreckt werden soll, häufig also dem im Rechtsstreit unterliegenden Elternteil. Dass Eltern im Streit miteinander um das Kind nicht stets kindeswohldienlich handeln, dürfte allen im Kindschaftsrecht tätigen Jurist*innen in Justiz und Anwaltschaft bekannt sein. Dass der EU- und der nationale Gesetzgeber hier keinen Schutzmechanismus vorgesehen haben, obwohl beide sich die Stärkung des Kindeswohls auf die Fahnen geschrieben haben, ist zu bedauern.

[77] Zirngast, in: Garber/Lugani, die Brüssel-IIb-VO, 2022, 13/35 f.; Antomo, in: Pfeiffer/Lobach/Rapp, Europäisches Familien- und Erbrecht, 2020, S. 13, 48 f.
[78] Vgl. Rauscher, in: Rauscher, Europäisches Zivilprozess- und Kollisionsrecht, 4. Aufl. 2015, Art. 40 Brüssel-Iia-VO, Rn 4: Durch Einlegung aller sich in beiden Staaten bietender Rechtsbehelfe könnten die Zeiteffekte für eigene Interessen und zum langfristigen Schaden des Kindeswohls genutzt werden.
[79] Gruber/Möller, IPRax 2020, 393, 396.
[80] Klinkhammer, FamRZ 2022, 325, 331.
[81] Flindt, NZFam 2022, 669, 678.
[82] Antomo, in: Pfeiffer/Lobach/Rapp, Europäisches Familien- und Erbrecht, 2020, S. 13, 48 f. m.w.N.; Pachmeyr, ZJS 2023, 311, 315.
[83] Schulz, FamRZ 2020, 1141, 1146 f.; abwägend: Klinkhammer, FamRZ 2022, 325, 327; Hüßtege, FamRZ 2022, 1591, 1600.
[84] Erwägungsgründe Nr. 54 und Nr. 62.
[85] BR-Drucks 254/21, S. 58.

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