Häufig wird von den Familiengerichten und auch von den anderen Akteuren (Jugendamt, Verfahrensbeistand, Verfahrensbevollmächtigte der Eltern) des familiengerichtlichen Kindesschutzverfahrens verkannt, dass hier ein anderer Entscheidungsmaßstab als in Elternkonfliktverfahren gilt. In Verfahren nach § 1671 BGB etwa ist der Maßstab, welche Gestaltung des elterlichen Sorgerechts (Beibehaltung der gemeinsamen Sorge, teilweise Alleinsorge, vollständige Alleinsorge?) dem Wohl des Kindes am besten dient.

Demgegenüber gehört es nach ständiger Rechtsprechung sowohl des BVerfG als auch des BGH nicht zur Ausübung des in §§ 1666, 1666a BGB geregelten staatlichen Wächteramts, gegen den Willen der Eltern für eine bestmögliche Förderung der Fähigkeiten des Kindes zu sorgen. Um eine Trennung des Kindes von den Eltern zu rechtfertigen, muss das elterliche Fehlverhalten ein solches Ausmaß erreichen, dass das Kind bei den Eltern in seinem körperlichen, geistigen oder seelischen Wohl nachhaltig gefährdet wäre. Die Annahme einer nachhaltigen Gefährdung des Kindes setzt voraus, dass bereits ein Schaden des Kindes eingetreten ist oder sich eine erhebliche Schädigung mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lässt.[27] Aus Art. 6 Abs. 3 und 3 GG ergibt sich darüber hinaus das Gebot, die dem Kind drohenden Schäden ihrer Art, Schwere und Eintrittswahrscheinlichkeit nach konkret zu benennen. Dem werden die Familiengerichte nicht gerecht, wenn sie ihren Blick nur auf die Verhaltensweisen der Eltern lenken, ohne die sich daraus ergebenden schwerwiegenden Konsequenzen für die Kinder darzulegen.[28] Auch sind die negativen Folgen einer Trennung des Kindes von den Eltern und einer Fremdunterbringung zu berücksichtigen und müssen durch hinreichend gewisse Aussicht auf Beseitigung der festgestellten Gefahr aufgewogen werden (Vermeidung sog. sekundärer Kindeswohlgefährdung).[29]

Dieser Entscheidungsmaßstab muss sich richtigerweise im Falle der Einholung eines Sachverständigengutachtens im Kindesschutzverfahren in den Beweisfragen wiederfinden. Die Beweisfragen müssen anhand der dargestellten Kriterien der Rechtsprechung von BGH und BVerfG fall-individuell und kind-individuell formuliert werden.[30]

[29] BVerfG v. 24.3.2014 – 1 BvR 160/14, FF 2014, 295. Dazu: Schwab/Ernst/Schäder, Handbuch Scheidungsrecht, 8. Aufl. 2019, § 5 Rn 236.
[30] Im Einzelnen: Ernst/Lohse/Ernst, Praxishandbuch Familiengerichtlicher Kinderschutz, 2022, Kap. 10 Rn 289 ff.

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