Familienrechtlerinnen und Familienrechtler der Universität Göttingen haben die künftige Bundesregierung und den Bundestag aufgefordert, das Abstammungsrecht zu modernisieren.

Das Abstammungsrecht ist von elementarer Bedeutung: Es weist einem Kind seine rechtlichen Eltern zu. Durch die rechtliche Abstammung wird ein familienrechtliches Statusverhältnis begründet, das für viele weitere wichtige Rechtsfragen im Leben von Eltern und Kind unmittelbare Bedeutung hat (z.B. elterliche Sorge, Unterhalt, Staatsangehörigkeit, Erbrecht). Die Reformbedürftigkeit des geltenden Abstammungsrechts steht außer Frage. Es wird den Möglichkeiten der Reproduktionsmedizin (insbesondere bei der Verwendung von Keimzellen Dritter) sowie der Pluralisierung von Familienformen und Eltern-Kind-Konstellationen nicht gerecht, es enthält inhaltliche Systembrüche (z.B. beim Prinzip der Statuswahrheit) und Ungleichheiten im Falle einer Samenspende (eine gesicherte Zuordnung des Kindes zum intendierten Vater erfolgt derzeit nur bei Vorliegen einer Ehe der Eltern), es ist lückenhaft (z.B. betreffend intersexueller Personen) und inkohärent (insbesondere im Verhältnis der rechtlichen Eltern-Kind-Zuordnung jenseits der Genetik zu deren Korrektur durch Anfechtung) sowie in manchen Teilen sogar verfassungswidrig (z.B. Mit-Mutterschaft). Es verfehlt damit seinen Zweck, angemessene Regelungen für die rechtliche Eltern-Kind-Zuordnung zur Verfügung zu stellen. Das wirkt sich für die betroffenen Familien und insbesondere für die Kinder oft gravierend aus. Das haben eine Vielzahl wissenschaftlicher Arbeiten übereinstimmend aufgezeigt.

Der Gesetzgeber ist bis heute untätig geblieben – trotz umfangreicher Vorarbeiten. So zeigte der Bericht des 2015 durch das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz (BMJV) eingesetzten Arbeitskreises Abstammungsrecht in vielen Bereichen Reformbedarf auf. Der nachfolgende Diskussionsteilentwurf des BMJV ist allerdings nicht weiterverfolgt worden. Auch ein weiterer, unveröffentlichter Entwurf aus dem BMJV ist nicht über die Ressortabstimmung innerhalb der Regierung hinausgekommen. Zuletzt hat auch der Bundesrat eine Initiative der Länder Berlin, Hamburg und Thüringen mit Beschluss vom 17. September 2021 abgelehnt.

Angesichts der bestehenden Unzulänglichkeiten des geltenden Rechts und der besonderen Wichtigkeit abstammungsrechtlicher Zuordnung ist eine Reform jedoch dringend angezeigt! Aufgrund der engen Verknüpfung zwischen der medizinisch-assistierten Reproduktion und den daraus resultierenden familienrechtlichen Folgefragen (z.B. im Hinblick auf die Solomutterschaft oder die Embryoadoption) ist es anzuraten, über die familienrechtlichen Regelungen im BGB hinaus medizinrechtliche Fragestellungen in einem umfassenden Fortpflanzungsmedizingesetz bei der Konzeption eines modernen Abstammungsrechts mitzubedenken bzw. mitzuregeln.

Wir fordern die künftige Bundesregierung und den Bundestag dazu auf, alsbald die Möglichkeiten der Reform des Abstammungsrechts und der damit eng zusammenhängenden Problemkreise zu diskutieren und gesetzlich neu zu regeln:

1. Konzeptionelle Neujustierung des Abstammungsrechts, nämlich: Schaffung eines stimmigen Gesamtkonzepts, das eine rechtssichere, rechtsklare, vorhersehbare, bestandsfeste und eine der Realität weitestmöglich entsprechende Eltern-Kind-Zuordnung ermöglicht, einen gerechten Ausgleich aller berührter Interessen vornimmt und die ethischen Mindeststandards wahrt. Dazu gehören insbesondere Regelungen zu den folgenden Punkten:

a) Elternschaft gleichgeschlechtlicher Paare

b) Elternschaft nach medizinisch-assistierter Zeugung (z.B. Konsequenzen der Verursachung der Zeugung eines Kindes)

c) Reform der Anfechtung der Elternschaft

2. Stärkung des Rechts auf Kenntnis der eigenen biologischen Abstammung sowie der eigenen biologischen Abkömmlinge durch eine Reform der statusneutralen Abstammungsfeststellung und eines Gesetzes über ein Keimzellen- und Embryospenderregister (Erweiterung des Samenspenderregistergesetzes).

3. Angleichung der rechtlichen Eltern-Kind-Zuordnung im Abstammungsrecht und der Adoptionsregelungen (Vermeidung von Inkohärenzen) sowie Anpassung letzterer an moderne Entwicklungen und Erkenntnisse.

Darüber hinaus regen wir an, die medizinisch-assistierte Reproduktion und den Zugang zu Reproduktionsmethoden angemessen gesetzlich zu regeln.

Quelle:

http://www.reusz.eu/upload/files/211016_gttinger_aufruf_zur_modernisierung_des_abstammungsrechts.pdf

Autor: Prof. Dr. Dr. h.c. Dagmar Coester-Waltjen, Prof. Dr. Dr. h.c. Volker Lipp, Prof. Dr. Philipp M. Reuß, Prof. Dr. Eva Schumann, Prof. Dr. Barbara Veit

Prof. Dr. Dr. h.c. Dagmar Coester-Waltjen, Prof. Dr. Dr. h.c. Volker Lipp, Prof. Dr. Philipp M. Reuß, Prof. Dr. Eva Schumann und Prof. Dr. Barbara Veit

FF 12/2021, S. 473 - 474

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