Prof. Dr. Henning Radtke

Schnitzler/FF:

Anlass für das Interview ist der 70. Geburtstag des Bundesverfassungsgerichts.

Laut den Presseerklärungen in verschiedenen Fachzeitschriften, die ich gelesen habe, waren beim Festakt zur offiziellen Eröffnung der damalige Bundespräsidenten Theodor Heuss und Bundeskanzler Konrad Adenauer am 28. September zugegen. Das Gericht hat sich aber bereits Anfang September unter dem damaligen Präsidenten Hermann Höpker Aschoff konstituiert.

Insofern ist es mehr als angemessen, dass dieses Interview nun zum 70. Geburtstag geführt wird. Erfreulich ist auch, dass Sie bei der Herbsttagung in Berlin, die sowohl digital als auch in Präsenz Ende November durchgeführt werden soll, einen Vortrag zum Verfassungsrecht und zur Verfassungsbeschwerde halten werden.

Ich werde, wie viele andere Kolleginnen und Kollegen, die aktuelle Stunde an meinem PC verfolgen und Ihnen aufmerksam zuhören.

Was ist in diesem Jahr anlässlich des Geburtstages geplant?

Radtke:

In diesem Jahr ist es wie mit so vielem: der "Tag der offenen Tür" kann pandemiebedingt nicht stattfinden. Anstelle eines Fests durften wir uns den Bürgerinnen und Bürgern stattdessen überwiegend in digitalen Formaten präsentieren. Auf dem Marktplatz in Karlsruhe wurde ein gläserner Cube ausgestellt, in dem beispielsweise eine Installation der berühmten roten Roben der Bundesverfassungsrichterinnen und -richter ausgestellt war und Interessierte sich Videostatements von Mitgliedern und Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Gerichts ansehen konnten, die Einblicke in die Arbeit des Gerichts ermöglichen. Auf einem LED-Schriftband am Balkon des Sitzungssaalgebäudes konnten außerdem die wichtigsten Daten und Entscheidungen aus den vergangenen 70 Jahren betrachtet werden.

Daneben arbeitet das Bundesverfassungsgericht anlässlich des 70-jährigen Jubiläums in mehreren Projekten mit der Bundeszentrale für politischen Bildung zusammen. Zu diesen Projekten zählten die virtuelle Diskussionsreihe bpb:forum digital spezial, in denen Mitglieder des Gerichts Rede und Antwort standen, der bundesweite Wettbewerb "WIR IST PLURAL – Preis zur Stärkung der Demokratie 2021", ein Schülerwettbewerb, bei dem es als Sonderpreis eine dreitägige Klassenreise nach Karlsruhe mit Besuch und Gespräch im Bundesverfassungsgericht zu gewinnen gibt und eine Politikstunde als livestream für Schülerinnen und Schüler. Neu produzierte Filme bieten schließlich Einblicke in die Geschichte und das Innenleben des Gerichts.

Schnitzler/FF:

Zur Pandemie: Sie haben in den letzten knapp 2 Jahren zahlreiche Anträge im Zusammenhang mit Corona im Rahmen Ihrer Kammerzugehörigkeit verhandeln müssen; in vielen Fällen offenbar auch als Berichterstatter.

Wie sehen Sie diese Arbeit, die ja überhaupt nicht vorauszusehen war?

Radtke:

Die erhebliche Zahl von Verfahren im Zusammenhang mit Maßnahmen zur Eindämmung der Coronapandemie hat natürlich die Arbeit des Bundesverfassungsgerichts seit dem Frühjahr 2020 geprägt und hat auch dazu geführt, die Prioritäten in der Bearbeitung der insgesamt anhängigen Verfahren immer wieder nachzusteuern. Viele der Verfassungsbeschwerden mit Bezug zu Coronamaßnahmen waren mit Anträgen auf Erlass einstweiliger Anordnungen verbunden. Über diese Anträge war naturgemäß rasch zu entscheiden, was in großem Umfang auch erfolgt ist. Ich erinnere an den Beschluss des Ersten Senat vom 5.5.2021, mit dem das vorläufige Außerkraftsetzen einzelner Regelungen der am 23.4.2021 in Kraft getretenen sogenannten Bundesnotbremse abgelehnt wurde. Entscheidungen in einstweiligen Anordnungsverfahren erfolgen aber eben im Kern auf der Grundlage einer Folgenabwägung; die Erfolgsaussichten der Verfassungsbeschwerde in der Hauptsache spielen dafür lediglich insofern eine Rolle, als unzulässige oder offensichtliche unbegründete Verfassungsbeschwerden den Erlass einer einstweiligen Anordnung regelmäßig ausschließen. Gerade hier lag aber ein Problem bei zahlreichen Coronamaßnahmen betreffenden Verfassungsbeschwerden und Anträge auf einstweilige Anordnungen. Bis zum Inkrafttreten der "Bundesnotbremse" hatten nahezu alle pandemiebedingten Freiheitseinschränkungen ihre Grundlage in Rechtsverordnungen der Länder. In beinahe allen Ländern steht gegen solche Rechtsverordnungen der Rechtsschutz vor der Verwaltungsgerichtsbarkeit im Rahmen von § 47 VwGO zur Verfügung. Wurde dieser Weg nicht beschritten, bevor die Bürgerinnen und Bürger sich gegen Landesverordnungen an das Bundesverfassungsgericht wandten, waren Verfassungsbeschwerden wegen des dafür geltenden Grundsatzes der Subsidiarität regelmäßig deshalb von vornherein unzulässig und Anträge auf einstweiligen verfassungsgerichtlichen Rechtsschutz schon aus diesem Grund erfolglos.

Es ist offenbar nicht immer gelungen, diese zwingenden Gründe für die Erfolgslosigkeit zahlreicher Beschwerden und Anträge im Zusammenhang mit Coronamaßnahmen deutlich zu machen. So scheint gelegentlich der ganz unzutreffende Eindruck entstanden zu sein, das Bundesverfassungsgericht habe in der ...

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