Die Frage der Vaterschaftsanfechtung leitet über zum letzten Aspekt verfassungsgerichtlicher Normenbildung, der hier zur Sprache kommen soll: das Recht auf Kenntnis der Abstammung. Das BVerfG hat das deutsche Abstammungsrecht durch mehrere Entscheidungen befruchtet, drei davon haben zu Änderungen des Bürgerlichen Gesetzbuches geführt.

  • Das Urt. v. 31.1.1989[74] erklärte eine Regelung des BGB für unvereinbar mit dem GG, welche das Recht des volljährigen Kindes auf Anfechtung der Vaterschaft in der damals vorgesehenen Weise[75] einschränkte. Die Entscheidung stützte sich im Wesentlichen auf das "Recht auf Kenntnis der eigenen Abstammung", das sich aus dem Persönlichkeitsrecht des Menschen ergebe. Der Entscheidung wurde legislativ erst durch das Kindschaftsrechtsreformgesetz von 1997 Rechnung getragen.[76]
  • In der Entscheidung vom 6.5.1997[77] befasste sich das Gericht gleichfalls mit der Rechtsposition des volljährigen Kindes und der Frage, ob die Mutter ihm gegenüber zur Auskunft über die Identität des leiblichen Vaters verpflichtet sei. Das BVerfG hielt das Ergebnis im Hinblick darauf offen, dass bei der Abwägung zwischen den widerstreitenden Grundrechten der Mutter und des Kindes im Rahmen der Anwendung zivilrechtlicher Generalklauseln (hier § 1618a BGB) ein weiter Spielraum zur Verfügung stehe.
  • Die Entscheidung vom 9.4.2003[78] erklärte das Abstammungsrecht des BGB insoweit für unvereinbar mit Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG, als es den (potenziellen) leiblichen Vater eines Kindes generell von der Anfechtung einer anderweitig bestehenden rechtlichen Vaterschaft ausschloss. Dem wurde legislativ durch Gesetz vom 23.4.2004 Rechnung getragen.[79]
  • Der kühnste Schritt wurde indes durch das Urteil des BVerfG vom 13.2.2007 vollzogen. Diese Entscheidung verlangte vom Gesetzgeber, dem rechtlichen Vater ein geeignetes Verfahren "allein zur Feststellung der Vaterschaft" bereitzustellen,[80] d.h. ein Verfahren, durch das geklärt werden kann, ob das ihm zugerechnete Kind auch wirklich von ihm abstammt. Dieses Postulat wurde durch das "Gesetz zur Klärung der Vaterschaft unabhängig vom Anfechtungsverfahren"[81] umgesetzt. Insbesondere wurde in das BGB der § 1598a eingefügt, der dem rechtlichen Vater, der Mutter und dem Kind zivilrechtliche Ansprüche gegeneinander auf Einwilligung in eine Abstammungsuntersuchung und auf Duldung der Entnahme einer dafür geeigneten Probe einräumt.

Bei den genannten Entscheidungen geht es um zwei unterschiedliche Positionen: einmal das Recht einer Person auf Kenntnis der Abstammung, zum anderen um das Interesse der Person an der abstammungsgemäßen rechtlichen Zuordnung. Das Verfassungsgericht hatte diese unterschiedlichen Positionen zunächst vermengt und 1989 aus dem Recht auf Kenntnis der eigenen Abstammung Folgerungen für das statusverändernde Anfechtungsrecht des Kindes gezogen. In der Entscheidung von 2003 trat demgegenüber das Interesse an der genetisch richtigen rechtlichen Zuordnung ins Zentrum der Argumentation, die Abstammungskenntnis rückte eher in den Hintergrund. Mit der Entscheidung von 2007 vollzog das Gericht schließlich eine strikte Trennung der beiden Rechtspositionen: Das Urteil erklärt die Verfassungsbeschwerde eines rechtlichen Vaters insoweit für begründet, "als es der Gesetzgeber unter Verletzung von Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG unterlassen hat, ein rechtsförmiges Verfahren bereitzustellen, in dem die Abstammung eines Kindes von seinem rechtlichen Vater geklärt und die Tatsache ihres Bestehens oder Nichtbestehens festgestellt werden kann, ohne daran zugleich Folgen für den rechtlichen Status des Kindes zu knüpfen."[82]

Das Recht auf Kenntnis der Abstammung erscheint dem Gericht offenkundig als das Primäre. Dieses Recht wird nicht nur auf das Persönlichkeitsrecht, sondern sogar auf die Menschenwürde gestützt ("i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG"), also in die höchstmögliche Ebene gehoben. Die Abstammung, so das Gericht, lege nicht nur die genetische Ausstattung des Einzelnen fest und präge so seine Persönlichkeit mit. Unabhängig davon nehme sie auch im Bewusstsein des Einzelnen eine Schlüsselstellung für Individualitätsfindung und Selbstverständnis ein. Als Individualisierungsmerkmal gehöre die Abstammung zur Persönlichkeit, die Kenntnis der Herkunft biete dem Einzelnen unabhängig vom Ausmaß wissenschaftlicher Ergebnisse wichtige Anknüpfungspunkte für das Verständnis und die Entfaltung der eigenen Individualität.[83]

Diese für die Kenntnis der eigenen Abstammung gefundene Argumentation wird 2007 ohne weiteres auch auf das Recht eines Mannes auf "Kenntnis, ob ein Kind vom ihm abstammt", übertragen. Dieses Kenntnisinteresse berühre das Verhältnis, in das sich ein Mann zu einem Kind und seiner Mutter setzt, und die emotionalen wie sozialen Beziehungen, die er zu diesen entwickelt. Das Wissen um die Abstammung des Kindes habe maßgeblichen Einfluss auf das Selbstverständnis des Mannes sowie die Rolle und Haltung, die er dem Kind und der Mutter gegenüber einnimmt.[84] Das gilt nach Ansicht des...

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