1. Das Bundesverfassungsgericht, im entschiedenen Fall die 2. Kammer des Ersten Senats, hatte Gelegenheit, seine in den letzten Jahren entwickelten Leitlinien zum Recht der Eltern aus Art 6 Abs. 2 S. 1 GG auf Pflege und Erziehung ihrer Kinder erneut in die familiengerichtliche Praxis zu tragen. Gegenstand der Verfassungsbeschwerde war der im einstweiligen Anordnungsverfahren beschlossene teilweise Entzug der elterlichen Sorge wegen Kindeswohlgefährdung. Der teilweise Entzug wurde zunächst in Bezug auf die Mutter der Zwillingstöchter beschlossen und in der Folge in Bezug auf den Vater. Dessen Beschwerde, über die das OLG ohne erneute mündliche Verhandlung entschieden hatte, blieb erfolglos. Die Verfassungsbeschwerde führte er mit der Begründung, die Gerichte hätten die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Feststellung einer Kindeswohlgefährdung verkannt. Er habe wiederholt deutlich gemacht, dass er keineswegs beabsichtige, die Kinder abrupt aus der Pflegefamilie herauszunehmen. Auch hätten die Gerichte verkannt, dass er als Elternteil seine Erziehungsfähigkeit nicht positiv unter Beweis stellen müsse. Ein Verstoß gegen den verfahrensrechtlichen Gewährleistungsinhalt des Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG ergebe sich aus einer unzureichenden Sachverhaltsaufklärung.

2. Die wesentlichen Aussagen des Bundesverfassungsgerichts lassen sich wie folgt fassen:

Eine räumliche Trennung des Kindes von seinen Eltern gegen deren Willen stellt den stärksten Eingriff in das Elterngrundrecht dar. Dieser darf nur unter strikter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes erfolgen bzw. aufrechterhalten werden.
Ein solcher Eingriff setzt voraus, dass das elterliche Fehlverhalten ein solches Ausmaß erreicht, dass das Kind bei den Eltern in seinem körperlichen, geistigen oder seelischen Wohl nachhaltig gefährdet wäre. So liegt es, wenn bei dem Kind bereits ein Schaden eingetreten ist oder sich eine erhebliche Gefährdung mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lässt.
Die strenge verfassungsgerichtliche Überprüfung erstreckt sich in diesen Falllagen auch auf einzelne Auslegungsfehler sowie auf deutliche Fehler bei der Feststellung und Würdigung des Sachverhalts.
Das Gericht hat von sich aus – nach pflichtgemäßem Ermessen – die zur Feststellung der Tatsachen erforderlichen Ermittlungen zu veranlassen und durchzuführen sowie die geeignet erscheinenden Beweise aufzunehmen. Das im Einzelfall vom FamG praktizierte Verfahren muss indes grundsätzlich dazu geeignet sein, eine möglichst zuverlässige Grundlage für eine am Kindeswohl orientierte Entscheidung zu erlangen.
Im Eilverfahren bemessen sich die Möglichkeiten des Gerichts, das Sorgerecht ohne abschließende Ermittlung des Sachverhalts zu entziehen, einerseits nach dem Recht des Kindes (Art. 2 Abs. 2 i.V.m. Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG), durch die staatliche Gemeinschaft vor nachhaltigen Gefahren geschützt zu werden, und andererseits insbesondere nach dem Recht der Eltern (Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG), von einem unberechtigten Sorgerechtsentzug verschont zu bleiben.
Bereits der vorläufige Entzug der gesamten Personensorge stellt einen erheblichen Eingriff in die Grundrechte der Eltern dar. Deshalb sind grundsätzlich auch bei einer Sorgerechtsentziehung im Eilverfahren hohe Anforderungen an die Sachverhaltsermittlung zu stellen.
Soll das Sorgerecht vorläufig entzogen werden, sind die Anforderungen an die Sachverhaltsermittlung umso höher, je geringer der möglicherweise eintretende Schaden des Kindes wiegt, in je größerer zeitlicher Ferne der zu erwartende Schadenseintritt liegt und je weniger wahrscheinlich dieser ist.
Ein Abwarten bis zur Entscheidung in der Hauptsache muss nicht möglich sein, weil diese zu spät kommen würde, um die zu schützenden Interessen (hier: das Kindeswohl) zu wahren. Nicht ausreichend ist, dass die gerichtliche Entscheidung dem erstrebten Ziel (hier: dem Kindeswohl) am besten entsprechen würde.

Das Bundesverfassungsgericht erachtet nach diesen Grundsätzen die materiell-rechtliche Beurteilung durch die Fachgerichte und deren Verfahren als nicht mit Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG vereinbar.

3. Welche Folgerungen ergeben sich daraus für die Praxis?

a) Die umfassende Aufklärung des Sachverhalts steht im Vordergrund des gerichtlichen Handelns. Dies macht ein Zusammenwirken aller Beteiligten notwendig, was sich zwangsläufig auf den von ihnen zu haltenden Vortrag auswirkt; dieser muss umfassend sein. Das FamG kann seine Amtsermittlungspflicht nur auf solche Umstände richten, die ihm zur Kenntnis gebracht werden. Ergibt sich allerdings aus dem Vortrag der Beteiligten weitergehender Aufklärungsbedarf, muss es dem natürlich von Amts wegen nachgehen.

Die persönliche Anhörung der Beteiligten ist die zentrale Erkenntnisquelle. Darauf sollte in jedem Stadium des Verfahrens geachtet werden. Angesichts des sich auch in Kindschaftssachen entwickelnden Sachverhalts dürfte im Hinblick auf die Bedeutung der persönlichen Anhörung sorgfältig zu prüfen sein, ob in der Beschwerdeinstanz von der Mögli...

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Deutsches Anwalt Office Premium. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge