GG Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1, 2 Abs. 2 S. 1, BVerfGG § 32 Abs. 1 § 93 Abs. 2, Brüssel IIa-VO Art. 42 40 11 Abs. 8, HKÜ Art. 12 13

Leitsatz

1. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat Erfolg, wenn eine noch zu erhebende Verfassungsbeschwerde nicht von vorneherein unzulässig und nicht offensichtlich begründet ist und die Folgenabwägung ergibt, dass die wegen der nachhaltigen Gefährdung des Kindeswohls bei lediglich zeitweiliger Rückführung des Sohnes entstehenden Nachteile überwiegen.

2. Es ist nicht auszuschließen, dass die Fachgerichte Art. 42 Brüssel IIa-VO in einer Weise ausgelegt und angewendet haben, mit der nicht gerechtfertigte Beeinträchtigungen der Grundrechte der Antragstellerin aus Art. 6 Abs. 2 GG und ihres Sohnes aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG und aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG einhergehen. Art. 42 Brüssel IIa-VO steht einer Sachentscheidung, die die Grundrechte des Kindes und das am Kindeswohl ausgerichtete Elterngrundrecht berücksichtigt, möglicherweise schon deshalb nicht entgegen, weil die Vorschrift gar nicht anwendbar ist. Dies ist dann der Fall, wenn die Bescheinigung gemäß Art. 42 Brüssel IIa-VO bereits deshalb nicht hätte erteilt werden dürfen, weil der Anwendungsbereich des dort in Bezug genommenen Art. 40 Abs. 1b) Brüssel IIa-VO nicht eröffnet ist.

(red. LS)

BVerfG, Beschl. v. 1.8.2022 – 1 BvQ 50/22 (OLG Bamberg, AG Bamberg)

Aus den Gründen

Gründe: [1] Die Antragstellerin begehrt im verfassungsgerichtlichen Eilrechtsweg die Aussetzung eines Beschlusses zur Vollstreckung eines spanischen Titels zur Herausgabe ihres Kindes an dessen in Spanien lebenden Vater.

I. [2] Die Antragstellerin ist die Mutter eines am 18.8.2013 in Madrid geborenen Sohnes, wo die nicht miteinander verheirateten Eltern gemeinsam lebten.

[3] 1. a) Die Eltern trennten sich im März 2014. Ohne Zustimmung des Vaters reiste die Antragstellerin in demselben Monat über Portugal nach Deutschland aus. Der Vater wusste nichts über den Aufenthaltsort von Mutter und Kind und erteilte zu deren Aufenthalt in Deutschland auch nie sein Einverständnis. Der Sohn hält sich seit März 2014 in Deutschland auf und spricht kein spanisch, sondern lediglich deutsch. Die Antragstellerin hatte im Juli 2014 einen deutschen Staatsangehörigen geheiratet, zu dem ihr Sohn ein gutes Verhältnis hatte und auch nach Scheidung der Ehe weiterhin hat. Auch zu der Familie des zeitweiligen Ehemanns der Antragstellerin besteht ein gutes Verhältnis.

[4] b) Der Vater leitete in Madrid ein Sorgerechtsverfahren ein. Mit Endurteil des Gerichts in Madrid vom 8.6.2015 wurde ihm im Rahmen einer Säumnisentscheidung die Personensorge sowie das Recht zur Bestimmung des Wohnorts für den Sohn aufgrund des unbekannten Aufenthalts der Antragstellerin übertragen.

[5] c) Am 24.2.2016 beantragte der Vater bei dem Amtsgericht Bamberg die Anordnung der sofortigen Rückführung des Kindes nach Spanien nach dem Haager Übereinkommen über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung (HKÜ). Mit Beschl. v. 24.3.2016 lehnte das Familiengericht den Antrag mit der Begründung ab, dass die (hiesige) Antragstellerin das Kind zwar widerrechtlich von Spanien in das Ausland verbracht habe, seitdem aber eine Frist von mehr als einem Jahr verstrichen und zwischenzeitlich erwiesen sei, dass sich das Kind in seine neue Umgebung eingelebt habe (Art. 12 Abs. 2 HKÜ). Die dagegen eingelegte Beschwerde des Vaters wies das Oberlandesgericht mit Beschl. v. 27.6.2016 zurück. Zur Begründung verwies es ebenfalls auf das Verstreichen der Frist aus Art. 12 Abs. 1 HKÜ sowie darauf, dass das Kind im Sinne von Art. 12 Abs. 2 HKÜ in seiner neuen Umgebung vollständig integriert sei. Letztlich wäre ein Bruch mit dem bestehenden Umfeld unzumutbar und mit dem Kindeswohl nicht vereinbar.

[6] d) Im Dezember 2016 beantragte die Antragstellerin bei dem Familiengericht, ihr die Sorge für ihren Sohn allein zu übertragen. Dies lehnte das Familiengericht mit der Begründung ab, die internationale Zuständigkeit deutscher Gerichte sei nicht gegeben. Die Bedingung nach Art. 10b) i) der Verordnung (EG) Nr. 01/2003 des Rates vom 27.11.2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 (Brüssel IIa-VO) liege nicht vor. Der Vater habe binnen eines Jahres nach seiner Kenntnis vom Aufenthaltsort einen Rückführungsantrag gestellt. Die hiergegen gerichtete Beschwerde der Antragstellerin wies das Oberlandesgericht mit derselben Begründung im April 2018 zurück.

[7] e) Einen von ihr bei dem Gericht in Madrid gestellten Antrag, die dortige Entscheidung vom 8.6.2015 abzuändern und ihr die elterliche Sorge für ihren Sohn zu übertragen, lehnte das Gericht mit Beschl. v. 8.1.2019 mit Hinweis auf die mittlerweile nicht mehr bestehende internationale Zuständigkeit spanischer Gerichte ab. Nach Art. 61 Brüssel IIa-VO seien die deutschen Gerichte zuständig; das HKÜ gelte nich...

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