Bei erster Lektüre – insbesondere der Leitsätze – der Entscheidung des OLG Nürnberg könnte sich der Eindruck einer Abkehr von den verfassungsgerichtlichen Vorgaben zu Fällen der "ertrotzten Kontinuität" ergeben. Dieser erste Eindruck täuscht. Das OLG Nürnberg folgt in seinem Beschluss uneingeschränkt der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts[1] und setzt sich dabei intensiv mit der gebotenen Einzelfallprüfung auseinander.

Kann zwischen dauerhaft getrennt lebenden Eltern kein Einvernehmen darüber erzielt werden, wem von ihnen die elterliche Sorge insgesamt oder in Teilbereichen – vor allem das Aufenthaltsbestimmungsrecht – zustehen soll, so bedarf es der familiengerichtlichen Entscheidung. Sowohl nach § 1671 Abs. 1 Nr. 2 als auch nach Abs. 2 Nr. 2 BGB[2] ist danach die sog. "große Kindeswohlprüfung" durchzuführen, die sich auf die Frage fokussiert, ob die Übertragung der Sorgebefugnis gerade auf den antragstellenden Elternteil sich als die dem Kindeswohl am besten entsprechende Entscheidung darstellt. Der unbestimmte Rechtsbegriff des Kindeswohls wird dabei von verschiedenen Kriterien näher präzisiert[3] – unter anderem der Erziehungseignung der Eltern und dem Kontinuitätsgrundsatz.[4] Da diese Kriterien nicht kumulativ nebeneinander stehen, kann bei einer zu treffenden Sorgerechtsentscheidung einem einzelnen Gesichtspunkt ausschlaggebende Bedeutung zukommen.[5] Im Rahmen der Prognosewertung muss das Familiengericht die Erziehungskompetenz der Eltern bewerten, d.h. welchem Elternteil es voraussichtlich aufgrund eigener persönlicher Voraussetzungen eher gelingen wird, dem Kind die Entwicklung zu einer gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit zu ermöglichen.[6] Der Bindungstoleranz eines Elternteils kommt dabei erhebliche Bedeutung zu, d.h. seiner Fähigkeit, einen spannungsfreien Kontakt zum anderen Elternteil nicht nur prinzipiell zuzulassen, sondern auch aktiv zu fördern.[7] Ebenso bedeutsam für das Kindeswohl ist aber auch der Kontinuitätsgrundsatz, der von der Frage ausgeht, welcher Elternteil auch künftig eine möglichst einheitliche, stetige, stabile und gleichmäßige Betreuung und Erziehung gewährleisten kann.[8] Kontinuität in diesem Sinn umfasst aber auch äußere Umstände, so dass der Aufenthaltswechsel eines Kindes nicht ohne triftige Gründe vorgenommen werden soll,[9] da ein solcher Wechsel regelmäßig mit Belastungen für das Kind verbunden ist.[10]

Sowohl die Bindungstoleranz als auch der Kontinuitätsgrundsatz werden in überdurchschnittlichem Maß tangiert, wenn ein Elternteil eigenmächtig, d.h. ohne vorherige Abstimmung mit dem jeweils anderen Elternteil, nach der Trennung das Kind an einen anderen Ort verbringt. Diese Problematik der sog. "ertrotzten Kontinuität" war bereits Gegenstand einer verfassungsgerichtlichen Entscheidung aus dem Jahr 2008.[11] Zwar hatte der Senat eine eingelegte Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen, sich in seinem Nichtannahmebeschluss gleichwohl aber zu den rechtlichen Folgen einer "ertrotzten Kontinuität" deutlich positioniert. Bereits zum damaligen Zeitpunkt verwies der Senat darauf, dass bei der im einstweiligen Anordnungsverfahren vorzunehmenden summarischen Abwägung stets das Kindeswohl zwingend im Vordergrund zu stehen habe, unbeschadet der zusätzlich zwischen den Grundrechten der jeweiligen Elternteile einerseits und den Grundrechten des Kindes andererseits herzustellenden Konkordanz. Mit Blick auf die mögliche präjudizielle Wirkung einer vorläufigen Sorgerechtsentscheidung hatte der Senat betont, dass jeweils eine umfassende Abwägung aller Einzelfallumstände vorzunehmen sei. Bei der gebotenen Abwägung dürfe aber das Fehlverhalten eines Elternteils, folgend aus der eigenmächtigen Verbringung des Kindes, nicht sanktioniert werden, auch wenn es sowohl unter dem Aspekt des Kontinuitätsgrundsatzes als auch der Beurteilung der Erziehungseignung eines Elternteils zu würdigen sei.

Diese Vorgaben der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung werden auch in der aktuellen Entscheidung des OLG Nürnberg konsequent umgesetzt. Unter detaillierter Ermittlung des während des familiären Zusammenlebens von jedem Elternteil übernommenen Betreuungsanteils prüft der Senat die Tragfähigkeit der Bindungen zwischen den Kindern und ihren Eltern ebenso wie etwaige Einschränkungen der Erziehungsfähigkeit der betreuenden Kindesmutter. Im Mittelpunkt der Entscheidung steht allerdings eindeutig die Kindeswohlprüfung. Sie beleuchtet alles Aspekte der veränderten Lebenssituation der Kinder und richtet sich sowohl auf die Frage, in welcher Ausgestaltung künftig die Umgangskontakte als mit dem Kindeswohl am besten zu vereinbaren sind als auch die Überlegung, ob aus dem Ortswechsel selbst Nachteile für die Kinder entstanden sind.

Im konkret entschiedenen Sachverhalt stellte sich – unter Berücksichtigung der dort maßgeblichen besonderen Einzelfallumstände – der eigenmächtige Ortswechsel der Kindesmutter als dem Kindeswohl nicht abträglich dar, und wurde im summarischen Verfahren zunächst ...

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