BVerfG § 32 Abs. 1, GG Art. 6 Abs. 2 S. 1, BGB § 1671

Leitsatz

1. Eine Verletzung des Elternrechts kommt sowohl im Hinblick auf Anforderungen an die Schaffung einer möglichst zuverlässigen Grundlage für eine am Kindeswohl orientierte Entscheidung in Betracht als auch im Hinblick auf die Begründungsanforderungen an das Fachgericht, wenn es in seiner Entscheidung der Einschätzung von Sachverständigen oder von beteiligten Fachkräften (insbesondere Verfahrensbeistand, Jugendamt, Familienhilfe, Vormund) nicht folgt.

2. Bei offenem Ausgang des Hauptsacheverfahrens ist in Sorgerechtsstreitigkeiten die nach § 32 Abs. 1 BVerfGG gebotene Folgenabwägung vorrangig am Kindeswohl zu orientieren.

3. Die erhebliche Belastung der Kinder durch eine dritte Vollstreckung in der Sache mit den zu erwartenden Modalitäten des Vollzugs (Vollstreckung durch den Gerichtsvollzieher unter Hinzuziehung von Jugendamt und Polizeivollzugskräften) gegen den erklärten Willen der Kinder wiegt schwerer als eine mögliche Beeinträchtigung des Kindeswohls wegen der vom Gericht – wohl abweichend von der aktuellen Einschätzung des Verfahrensbeistandes und derjenigen einer in einem früheren Verfahren beauftragten Sachverständigen – in Zweifel gezogenen Erziehungsfähigkeit der Mutter und eine weitere Entfremdung vom Vater, wenn mit dem vorläufigen Verbleib bei der Mutter keine Kindeswohlgefährdung verbunden ist.

(red. LS)

BVerfG, Beschl. der 2. Kammer des Ersten Senats v. 15.6.2023 – 1 BvR 1076/23 (OLG Köln, AG Köln)

1 Aus den Gründen

Gründe: I. [1] Die Beschwerdeführerin ist die Mutter von zwei 2012 und 2016 geborenen Kindern, die aus der Ehe mit dem Vater hervorgegangen sind. Seit der Trennung der Eltern Anfang 2020 gab und gibt es eine Vielzahl von umgangs- und sorgerechtlichen Verfahren.

[2] 1. In früheren familiengerichtlichen Verfahren waren zum Sorgerecht, insbesondere zum Teilbereich der Aufenthaltsbestimmung, unterschiedliche gerichtliche Entscheidungen ergangen, die zu mehrfachen Aufenthaltswechseln der Kinder führten. So wurde im Juni 2020 zunächst in einem einstweiligen Anordnungsverfahren dem Vater vorläufig das Aufenthaltsbestimmungsrecht allein übertragen und die zugleich angeordnete Herausgabe der Kinder an ihn unter Hinzuziehung von Jugendamt, Gerichtsvollzieher und Polizeikräften vollstreckt. Nachdem die im zugehörigen Hauptsacheverfahren beauftragte Gutachterin empfohlen hatte, den Lebensmittelpunkt der Kinder (wieder) bei der Beschwerdeführerin zu begründen und dem Vater einen umfänglichen Umgang einzuräumen, übertrug das Familiengericht das Aufenthaltsbestimmungsrecht wiederum auf die Beschwerdeführerin und traf eine weitgehend einem paritätischen Wechselmodell entsprechende Umgangsregelung. Seit dem September 2022 ließ die Beschwerdeführerin allerdings keine Umgangskontakte mit dem Vater mehr zu und berief sich dafür auf die entsprechende Ablehnung durch die Kinder.

[3] 2. Daraufhin regte der Vater das Ausgangsverfahren zur (erneuten) vorläufigen Regelung des Sorgerechts an. Das Familiengericht übertrug ohne vorherige mündliche Verhandlung in diesem Verfahren im November 2022 das Aufenthaltsbestimmungsrecht vorläufig auf den Vater und ordnete im Dezember 2022 die unverzügliche Herausgabe der Kinder an ihn an. Diese Herausgabeanordnung wurde erneut durch den Gerichtsvollzieher unter Hinzuziehung von Jugendamt und Polizeivollzugskräften vollstreckt. Das Familiengericht bestellte den Kindern anschließend einen Verfahrensbeistand. Dieser empfahl nach Gesprächen mit den Kindern, das Aufenthaltsbestimmungsrecht wiederum der Beschwerdeführerin zurück zu übertragen. Nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung (vgl. § 54 Abs. 2 FamFG) und Anhörung der Beteiligten sowie beider Kinder hob das Familiengericht mit Beschl. v. 31.1.2023 seine Entscheidung aus dem November 2022 auf, so dass erneut die Beschwerdeführerin das Aufenthaltsbestimmungsrecht innehatte und die Kinder deshalb bei ihr leben. Auf die Beschwerde des Vaters hin änderte das Oberlandesgericht durch den mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Beschl. v. 8.5.2023 die Entscheidung des Familiengerichts vom 31.1.2023 ab und übertrug dem Vater das Aufenthaltsbestimmungsrecht vorläufig zur alleinigen Ausübung. Eine dagegen gerichtete Anhörungsrüge der Beschwerdeführerin wies das Oberlandesgericht als unbegründet zurück.

[4] 3. Mittlerweile hat das Familiengericht in Umsetzung der vorläufigen Sorgerechtsentscheidung des Oberlandesgerichts mit Beschl. v. 12.6.2023 die Herausgabe der Kinder an ihren Vater angeordnet. Diese Entscheidung hat die Beschwerdeführerin im Verfassungsbeschwerdeverfahren nachgereicht.

[5] 4. In ihrer Verfassungsbeschwerde macht die Beschwerdeführerin unter anderem geltend, in ihrem Elternrecht aus Art. 6 Abs. 2 GG verletzt zu sein. Mit ihrem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung (§ 32 Abs. 1 BVerfGG) erstrebt sie, die Vollziehung der Entscheidungen zum Aufenthaltsbestimmungsrecht und zur Kindesherausgabe vorläufig auszusetzen und macht dafür vor allem den Kindern drohende Schäden ge...

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