Jenseits der verkrampften Suche nach typischen Ungleichgewichtslagen könnte Anlass und Legitimation für eine Inhaltskontrolle von Eheverträgen in der Eigenart der Ehe als langfristig angelegte und dynamische Beziehung liegen, die sich erst allmählich in permanenter Entwicklung und Anpassung an veränderte Umstände durch die Partner entfaltet.[1] Ob ein Verzicht auf zukünftige Ansprüche zu einer unzumutbaren Belastung eines Vertragspartners führt, ist bei Vertragsschluss meist noch gar nicht greifbar, sondern ergibt sich erst aus der Art und Weise, wie die Vertragspartner die Beziehung im Laufe der Zeit mit Leben füllen und ggf. auch beenden. Dementsprechend mögen die Gefahren eines Anspruchsverzichts den Beteiligten bei Vertragsschluss zwar abstrakt-intellektuell präsent sein, jedoch in ihrer Tragweite und ihren möglicherweise dramatischen Konsequenzen nicht realistisch eingeschätzt werden.[2] Man könnte daher auf den Gedanken kommen, das Postulat der Richtigkeitsgewähr für langfristig angelegte, dynamische Vertragsbeziehungen unter dem Gesichtspunkt einer Überforderung der Selbstverantwortung einzuschränken, weil die Vertragspartner hier typischerweise nicht ausreichend rational und konsequent ihre berechtigten Interessen durchsetzen.[3]

So wird neuerdings im Geleitzug von "behavioural law and economics" die Anerkennung einer Störung der Willensfreiheit wegen begrenzter Rationalität diskutiert.[4] In diesem Sinne deuten und legitimieren Fleischer[5] und ihm folgend Schön die höchstrichterliche Rechtsprechung zur Inhaltskontrolle von gesellschaftsrechtlichen Abfindungsklauseln, die sich mit dem herkömmlichen Ansatz einer Paritätsstörung nicht erfassen lässt: Wer sich darauf einlasse, für den Fall eines künftigen Ausscheidens gar nicht oder nur zu einem Bruchteil des Anteilswerts abgefunden zu werden, dokumentiere die typische Neigung, den gegenwärtigen Nutzen des in Aussicht genommenen Vertragsschlusses zu überschätzen und zukünftige Kosten und Risiken systematisch zu unterschätzen; er leide sowohl an "Überoptimismus" im Hinblick auf die Stabilität der kollegialen Zusammenarbeit als auch an "Zeitinkonsistenz" im Hinblick auf die Bedeutung des aktuellen Verzichts für die Zukunft.[6] Darüber hinausgehend hat Sanders parallel die Inhaltskontrolle von Eheverträgen und von Gesellschaftsverträgen aufgearbeitet und auf das Problem einer begrenzten Rationalität bei Vertragsschluss zurückgeführt und gerechtfertigt.[7] Der Gesichtspunkt des Überoptimismus bei Vertragsschluss wird von ihr ergänzt durch Rückgriff auf die Theorie vom relational contract:[8] Diese sieht die Eigenart langfristiger Vertragsbeziehungen wie Ehe und Gesellschaft in einem immer dichter werdenden Beziehungsgeflecht mit steigender Hintergrunderwartung gegenseitiger Verantwortung.[9] Häufig stelle im Laufe der dynamischen Entwicklung eines solchen Vertrages ein Vertragspartner seine individuellen Interessen zurück, weil er auf den Bestand des Gemeinschaftsverhältnisses vertraue und deshalb den Gemeinschaftsinteressen auch Priorität gebe. Gleichzeitig sinke wegen der immer enger werdenden persönlichen Beziehungen die Neigung zu aus rationaler Perspektive möglicherweise nahe liegenden Vertragsanpassungen, schon weil der bloße Wunsch nach einer Neuverhandlung die gemeinsame Vertrauensbasis infrage stellen könnte.[10]

In unserem Beispiel übernimmt M im Interesse der Familie die Haushaltsführung und Kinderbetreuung ohne vorher von seiner Frau eine Anpassung des Ehevertrages im Sinne einer Modifizierung der Gütertrennung zu verlangen.

[1] Siehe bereits Dauner-Lieb, AcP 201 (2001), 295, 322; grundlegend dazu Sanders, Statischer Vertrag (Fn 6).
[2] Dauner-Lieb, AcP 201 (2001), 295, 319 ff.
[3] Dauner-Lieb, AcP 201 (2001), 295, 323; die Besonderheit der Konsensstruktur betont auch Meder (Fn 1), 75 ff., der im Übrigen auf die Nähe eines Verzichts auf künftigen Zugewinnausgleich zu § 311b Abs. 2 BGB verweist, der seinerseits auf Schutz vor einer Beeinträchtigung künftiger Freiheiten zielt.
[4] Exemplarisch etwa Schön, Zwingendes Recht oder informierte Entscheidung – zu einer (neuen) Grundlage unserer Zivilrechtsordnung, in: FS für Canaris, Bd. I, 2007, S. 1191; Wagner, ZEuP 2007, 180, 191; ders., Materialisierung des Schuldrechts unter dem Einfluss von Verfassungsrecht und Europarecht – was bleibt von der Privatautonomie?, in: Blaurock/G. Hager (Hrsg.), Obligationenrecht im 21. Jahrhundert, 2010.
[5] Fleischer, Behavioral Law and Economics in Gesellschafts- und Kapitalmarktsrecht – Ein Werkstattbericht, in: FS für Immenga, 2004, S. 575, 581 f.
[6] Schön (Fn 49), S. 1191, 1210.
[7] Sanders, Statischer Vertrag (Fn 6), insbesondere S. 313 ff.
[8] Sanders, Statischer Vertrag (Fn 6), insbesondere S. 321 ff.
[9] Sanders, Statischer Vertrag (Fn 6), S. 323.
[10] Sanders, Statischer Vertrag (Fn 6), S. 335 ff.

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