Schon kurz nach der Gesetzesreform 2008 (siehe unter A. II. 4.) wurde zutreffend festgestellt, dass sich das materielle Unterhaltsrecht zu einem Netzwerk von Billigkeitsvorschriften entwickelt hat.[61] Billigkeitsentscheidungen sind zu treffen im Rahmen des Betreuungsunterhalts und der dortigen Anspruchsverlängerung (§ 1570 Abs. 1 S. 2, Abs. 2 BGB), Belange des Kindes und bestehende Möglichkeiten der Kindesbetreuung sind zu berücksichtigen (§ 1570 Abs. 1 S. 3 BGB), ohne dass klar würde, in welcher Weise und mit welchem Gewicht das zu geschehen hat. Die Angemessenheit einer Erwerbstätigkeit ist nach Billigkeit zu beurteilen (§ 1574 Abs. 2 S. 1 BGB); einem Unterhalt aus Billigkeitsgründen ist eine ganze Vorschrift gewidmet (§ 1576 BGB), deren praktische Bedeutung minimal ist. Eine "umfassende" Billigkeitsentscheidung ist zu treffen im Rahmen von Herabsetzung und zeitlicher Begrenzung nach § 1578b BGB.[62] Eine negative Billigkeitsklausel spielt im Rahmen der "groben Unbilligkeit" nach § 1579 BGB eine Rolle, schließlich verzichtet auch § 1581 BGB beim Maßstab des Unterhalts nicht auf das Kriterium der Billigkeit.

Dies alles ist weit von Rechtsnormen entfernt, die subsumierbare Tatbestandselemente enthalten. Die "Flucht in die Generalklauseln"[63] lässt reines Richterrecht entstehen und erzeugt erhebliche Unsicherheiten bei den betroffenen Beteiligten wie deren Beratern. Wenn in der Praxis auf eine Gesamtschau aller Billigkeitsgesichtspunkte abgestellt wird, ohne dass Kriterien für deren Gewichtung zur Verfügung stehen, dann gibt es keine verlässliche Voraussage darüber, welches Ergebnis eine Billigkeitsentscheidung haben wird.[64] Gerichtliche Entscheidungen können nur dann transparenter gemacht werden, wenn man auf eine Entscheidung nach Billigkeit soweit wie möglich verzichtet.

[61] Graba, FamRZ 2008, 1271.
[62] BGH FamRZ 2010, 1971 unter Rn 21; BGH FamRZ 2010, 1637 unter Rn 47.
[63] Gernhuber/Coester-Waltjen, Familienrecht, 6. Aufl., § 1, Rn 56.
[64] Ein vergleichbares Dilemma erlebt der Haftungsrechtler im Rahmen der Frage, wie das Gericht denn wohl im Rahmen einer Entscheidung zum Schmerzensgeld die verschiedenen Kriterien bewerten wird; s. dazu Born, NZV 2016, 545.

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