I. Art. 8 EMRK

Zunächst sollen zwei Urteile des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) angesprochen werden, die für die nationale Praxis von Interesse sein dürften.

In einem Urt. v. 10.11.2022 hat der EGMR eine Verletzung des Rechts auf Familienleben der Kindesmutter nach Art. 8 EMRK festgestellt, weil die nationalen Gerichte dieser das Sorgerecht wegen "mangelnder Kooperationsbereitschaft" mit dem Kindesvater im Hinblick auf die Durchführung von Umgangskontakten entzogen haben, ohne hierbei die Historie häuslicher Gewalt zu berücksichtigen.[1] Der Gerichtshof verweist insoweit auf Art. 31 der Istanbul Konvention, der bestimmt, dass häusliche Gewalt und Gewalt gegen Frauen bei Entscheidungen betreffend das Sorge- und/oder Umgangsrecht zu berücksichtigen sind.

In einem zweiten Urteil hat sich der EGMR mit dem erforderlichen Beweismaß in Kindschaftsverfahren befasst.[2] Die Kammer hält fest, dass das Erfordernis, strafrechtliche Verurteilungen von einem hohen Beweismaß abhängig zu machen und diesbezügliche Zweifel zugunsten des Angeklagten auszulegen, nicht im Allgemeinen außerhalb von Strafverfahren gelte. Bei der Bewertung, ob eine Kindeswohlgefährdung vorliege, sollten die Behörden nicht verpflichtet sein, eine strafrechtliche Schuld zweifelsfrei nachzuweisen, um Maßnahmen zum Schutz von Kindern vor schädlichen Situationen zu rechtfertigen. Ansonsten würde die Fähigkeit der Behörden, ihrer positiven Verpflichtung zum Schutz des Lebens und des Wohlergehens von Kindern nachzukommen, ernsthaft untergraben. Die Berücksichtigung aller Fakten des Falles, um das Wohl der Kinder zu bestimmen, sei daher ausreichend.

[1] EGMR, Urt. v. 10.11.2022 – 25426/20, NZFam 2022, 1144 (m. Anm. Volke). Im Volltext abrufbar unter www.hudoc.echr.coe.int unter Eingabe des Aktenzeichens in die Suchzeile.
[2] EGMR, Urt. v. 15.11.2022 – 25133/20, www.hudoc.echr.coe.int.

II. §§ 1666, 1666a BGB, § 1632 BGB

Auch im Jahr 2022 hat das BVerfG einige auch für die Praxis relevante Entscheidungen zu kinderschutzrechtlichen Maßnahmen im Sorgerecht erlassen. Wie schon 2021,[3] ging es auch im Jahr 2022 um den Schutzanspruch des Kindes gegenüber dem Staat bei einer beabsichtigten Rückführung zu seinen leiblichen Eltern.[4] Hintergrund der Herausnahme des Kindes war eine langjährige BtM-Abhängigkeit beider Eltern, gewalttätige Konflikte unter ihnen und eine drogeninduzierte Psychose bei der Kindesmutter. Während das AG die Rückführung des Kindes im Hauptsacheverfahren nach Einholung eines Gutachtens ablehnte, übertrag das OLG dem Kindesvater wegen dessen derzeitiger Drogenabstinenz das Aufenthaltsbestimmungsrecht, die Gesundheitsfürsorge und das Recht zur Regelung der schulischen Angelegenheiten bei bestehender gemeinsamer Sorge der Eltern in den anderen Teilbereichen. Zugleich verpflichtete es den Vater zur Teilnahme an einem Impulskontrolltraining und ordnete den Verbleib des Kindes "bis auf Weiteres, längstens bis zum 11.4.2022" im Haushalt der Pflegeeltern an. Das BVerfG hatte bereits den Vollzug der Entscheidung des OLG im Rahmen einer einstweiligen Anordnung ausgesetzt.[5] In der Hauptsache hat es eine Verletzung der Grundrechte des Kindes aus Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 6 Abs. 2 GG (Recht des Kindes auf staatlichen Schutz und das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit) festgestellt. Bei der Rückführung sei, so die Kammer, auf ausreichend sicherer Tatsachengrundlage festzustellen, dass eine erhebliche konkrete Kindeswohlgefährdung bei einer Rückführung nicht besteht. Zwar sei es zulässig, dass ein Gericht seine Entscheidung über die Rückführung abweichend von den Empfehlungen der Fachbeteiligten treffe.[6] Dies bedürfe jedoch einer näheren Begründung. Vorliegend habe das OLG abweichend von den Meinungen der Fachbeteiligten entschieden, ohne seine eigene Sachkunde oder abweichende Erkenntnisgrundlagen in der gebotenen Weise darzulegen. Den Verweis auf die durch die Eltern wahrgenommenen Paar- und Suchtgespräche sah die Kammer als unzureichend an. Auch fehle es an der Einbeziehung des Umstandes, dass die Rückführung des Kindes in den Haushalt des Vaters im maßgeblichen Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung zugleich auch die Rückführung zu der im selben Haushalt lebenden psychisch instabilen Mutter bedeutete. Weiter habe das OLG nicht ausreichend begründet, warum mildere Mittel in Gestalt von ambulanten Maßnahmen nach einer Rückführung des Kindes in den Haushalt der Eltern ausreichen sollen, um einer Kindeswohlgefahr dort dauerhaft entgegenzuwirken.

Für die Praxis bedeutet die Entscheidung, den wachsamen Blick darauf zu richten, ob das FamG alle wesentlichen Gesichtspunkte berücksichtigt und auch benannt hat. Im Falle der Abweichung von den Meinungen der Fachbeteiligten ist weiter sorgsam darauf zu achten, ob das Gericht über anderweitige verlässliche und überzeugende Erkenntnisquellen verfügt.

Die mögliche Rückführung von Kindern aus einer Pflegefamilie zurück zu den Eltern war Gegenstand von zwei weiteren Entscheidungen des BVerfG. In seiner Entscheidung vom 13.7.2022[7] mach...

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