Heinrich Schürmann, Vorsitzender Richter am OLG, Oldenburg

Das vor gut einem Jahr in Kraft getretene Unterhaltsrechtsänderungsgesetz hat den Regelbetrag durch den Mindestunterhalt abgelöst. Damit soll für minderjährige Kinder zumindest ein dem Existenzminimum entsprechender Unterhalt gewährleistet werden.[1] Der Gesetzgeber wähnte sich auf der sicheren Seite, als er den Steuerfreibetrag für das sächliche Existenzminimum (§ 32 Abs. 6 S. 1 EStG) zum Maßstab wählte. Es handelt sich hierbei zwar um einen Durchschnittswert, der aber den Vorgaben des Verfassungsgerichts für eine realitätsgerechte Bemessung genügen muss. Er wird rechnerisch auf der Grundlage der für Kinder maßgeblichen Regelsätze zuzüglich anteiliger Wohnkosten ermittelt. Nun lag dieser Betrag in den Jahren 2007/2008 mit monatlich 304 EUR niedriger, als es der unterhaltsrechtlich erwarteten Mindestleistung von 135 % des Regelbetrages entsprach. Um ein Absinken der Unterhaltszahlungen zu vermeiden, wurde der Mindestunterhalt in § 36 EGZPO übergangsweise mit höheren Beträgen festgesetzt. Der Gesetzgeber nahm die eigentlich schon 2008 überfällige Anpassung des Steuerfreibetrages vorweg[2] – er war im Unterhaltsrecht seiner Zeit voraus.

Ende 2008 folgte dann die Anpassung des Kinderfreibetrages. Der erste Beschluss der Bundesregierung ging noch von einer Anhebung der Freibeträge auf insgesamt 6.000 EUR/Jahr (3.840 + 2.160) aus. Er wurde durch den nur wenig später bekannt gewordenen Entwurf zum Existenzminimumbericht 2010[3] überholt. Nach dessen Berechnungen liegt das durchschnittliche Existenzminimum eines minderjährigen Kindes bei 3.864/Jahr (= 322 EUR/Monat). Auf diesen Wert ist der Freibetrag für das sächliche Existenzminimum mit dem Familienleistungsgesetz vom 22. Dezember 2008[4] angehoben worden. Er bildet die Basis für den Mindestunterhalt nach § 1612a BGB und die zum 1. Januar 2009 angepasste Düsseldorfer Tabelle.

Die Berechnung des Existenzminimums war jedoch bereits durch das Sozialrecht überholt, als die Zahlen bekannt gegeben wurden. Denn die Bemessungsgrundlagen selbst waren zwischenzeitlich in den Blickpunkt gerückt. Der Bundesrat hatte die Regierung schon mit seiner Entschließung vom 23. Mai 2008 aufgefordert, die Ableitung des kindlichen Existenzminimums aus dem gekürzten Eckregelsatz für Erwachsene auf ihre Eignung und Aussagekraft zu überprüfen.[5]

Einen weiteren Schwerpunkt der Kritik bildete der nur unzureichend berücksichtigte Aufwand für den schulischen Bedarf. Hierauf reagierte der Gesetzgeber, indem er ebenfalls mit dem Familienleistungsgesetz[6] einen Betrag von 100 EUR/Schuljahr für Schüler bis zum Abschluss des 10. Schuljahres als weitere Bedarfsposition in das Sozialrecht einfügte (§ 24a SGBII, § 28a SGBXII). Dieser Aufwand ist Teil des sächlichen Existenzminimums,[7] das damit bereits um etwa 8 EUR monatlich über dem im Existenzminimumbericht genannten Betrag liegt.

Inzwischen haben Bundestag und Bundesrat auch das "Konjunkturpaket II"[8] verabschiedet. Dieses Gesetz verändert erneut die sozialrechtlichen Parameter. Gem. § 74 SGBII bzw. § 3 Abs. 2 RegelsatzVO wird für Kinder vom 7. bis zur Vollendung des 14. Lebensjahres eine dritte Altersstufe eingefügt. Ab dem 1. Juli 2009 beträgt der Regelsatz für diese Kinder 70 % (statt 60 %) des Eckregelsatzes. Die Neuregelung ist zwar zunächst bis zum Jahresende 2011 befristet, dieses aber nur als Übergangslösung bis zur turnusmäßig erwarteten Überprüfung der Regelsätze.

Diese Neuregelung entzieht dem Existenzminimumbericht 2010 bereits heute seine Grundlagen. Denn sie erhöht die prognostizierten Durchschnittswerte für den Bedarf eines Kindes erheblich. Der bisherigen Berechnung folgend ergeben sich folgende Veränderungen:

Der durchschnittliche Wert erhöht sich um 4,44 Prozentpunkte auf insgesamt 339 EUR. Nach der gegenwärtigen Berechnung ergibt sich zusammen mit dem Schulbedarf ein Betrag, der fast 350 EUR erreicht.

Nach der ständigen Rechtsprechung des BVerfG sind die existenzsichernden Aufwendungen realitätsgerecht zu bemessen. Der steuerliche Freibetrag darf den für das sächliche Existenzminimum aus öffentlichen Kassen zur Verfügung gestellten Betrag daher zwar überschreiten, keinesfalls aber unterschreiten.[9] Damit erweist sich die zum 1. Januar 2009 vorgenommene Anpassung im Einkommensteuerrecht als offensichtlich unzureichend.

Die Sozialgerichtsbarkeit hat auf die Kritik an der Bemessung des sächlichen Existenzminimums für Kinder bereits reagiert. Gestützt auf mehrere Gutachten hält das Landessozialgericht Hessen die Höhe der Regelsätze für verfassungswidrig und hat diese Frage im Oktober 2008 dem BVerfG zur Entscheidung vorgelegt.[10] In dieselbe Richtung weist der Vorlagebeschluss des BSG vom 27. Januar 2009[11], der in der Sache auf die nur unzureichenden tatsächlichen Grundlagen bei der Bemessung der Regelsätze für Kinder abstellt.

Diese sozialrechtlichen Entwicklungen lassen das Unterhaltsrecht nicht unberührt. Das sozialrechtliche Existenzminimum soll in einer pauschalierten Le...

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