Das Oberlandesgericht Hamm hat den Nachteil des durch die Ausübung des Kapitalwahlrechts betroffenen anderen Ehegatten über § 27 VersAusglG kompensiert und dessen Anrechte in entsprechender Höhe nicht zum Ausgleich gebracht.[36] Diese Entscheidung folgt hierzu bereits vorliegender Rechtsprechung und ist aufgrund des zu entscheidenden Sachverhaltes richtig. Sie sollte allerdings nicht dazu verleiten, bei der anwaltlichen Fallbearbeitung immer direkt auf § 27 VersAusglG zu plädieren, der leztlich nur die ultima ratio ist. Das liegt daran, dass je nach Einzelfall der benachteiligte Ehegatte selbst gar nicht genug Anrechte hat, die zur Kompensation herangezogen werden können (Hausfrauenehe oder anderweitiges großes Versorgungsgefälle) und weil in jeder Billigkeitsabwägung ein Prozessrisiko begründet ist. Ein günstigeres Ergebnis ist im Einzelfall möglich, wenn der Fall gutachtlich geprüft und abgeschichtet wird[37]:

  1. Bestand überhaupt ein Kapitalwahlrecht? Hierzu sollten Versicherungsschein und Satzung geprüft werden. Ein Gericht mag sich in eigener Verantwortung auf Erklärungen des Versicherers verlassen (vgl. die Entscheidung des OLG Hamm). Diese können aber, z.B. irrtümlich, falsch sein. Außerdem können – in Sonderfällen – Parteiabreden bestehen, die gegen die Berufung auf ein Kapitalwahlrecht streiten.[38]
  2. Besteht ein Kapitalwahlrecht: liegen die rechtlichen Voraussetzungen seiner Ausübung vor?
  3. Liegen sie vor: Bestand die Befugnis zur Ausübung des Wahlrechts oder war diese durch besondere Umstände ausgeschlossen, etwa durch Abtretung oder Sicherungsabtretung des Anspruchs auf die Versicherungsleistung[39]?
  4. Ist das Kapitalwahlrecht tatsächlich ausgeübt worden, ist das substantiiert vorgetragen und unter Beweis gestellt?
  5. War die Ausübung rechtswirksam (Wirksame Willenserklärung: Geschäftsfähigkeit, Anfechtung usw., Erklärung gegenüber dem Versicherer und nicht etwa gegenüber der Bank[40])?
  6. Wann ist das Kapitalwahlrecht ausgeübt worden? Die Ausübung vor der Rechtshängigkeit des Scheidungsantrag oder nach der letzten mündlichen Verhandlung – ggf. erst vor dem Oberlandesgericht – ist unproblematisch. Bei der Ausübung im Zwischenzeitraum greift der Bundesgerichtshof auf den Zugewinnausgleich zurück![41] Hier muss man sich also nicht auf § 27 VersAusglG verweisen lassen, sondern einen GÜ-Antrag stellen
  7. Ist der Rückgriff auf den Zugewinnausgleich ausgeschlossen (Güterrechtsklausel, gestörter Zugewinnausgleich, rechtskräftige Entscheidung oder bestandskräftiger Vergleich über den Versorgungsausgleich)? Ein solcher Fall (Gütertrennung) war vom OLG zu entscheiden, weshalb die Entscheidung über § 27 VersAusglG richtig ist.
  8. Versagt auch diese Lösung ganz oder teilweise, weil der benachteiligte Ehegatte für eine Kompensation zu geringe oder gar keine eigenen Anrechte hat, sollten die Gerichte einen Schadensersatz über § 826 BGB prüfen,[42] wobei freilich die Wahlrechtsausübung sittenwidrig sein muss, was im Hinblick auf die – zur Verteidigung vorzutragenden – Gründe nicht automatisch der Fall sein muss: das Oberlandesgericht Schleswig hat entschieden, dass die Kündigung eines Lebensversicherungsvertrages zur Behebung finanzieller Schwierigkeiten nicht illoyal und sittenwidrig ist.[43] Anders kann ein bewusster, insbesondere zeitlicher Zusammenhang mit einem Scheidungs- oder VA-Verfahren zu bewerten sein.[44] Manipulative Wahlrechtsausübungen könnten ähnlich zu bewerten sein wie das Verschweigen von Anrechten, bezüglich dessen ebenfalls ein Schadensersatzanspruch wegen Verletzung der ehelichen Solidarität anerkannt ist.[45]

Nunmehr ist eine weitere Spielart des Problems aufgetaucht, und zwar auf der versicherungsrechtlichen Seite des VN-Ehegatten: Das Gericht hatte die Kapitalwahl nicht beachtet und das Anrecht dennoch im Versorgungsausgleich berücksichtigt. Ein Zivilgericht entschied in zweiter Instanz,[46] dass der VN-Ehegatte das ausgezahlte Kapital an den Versicherer zurückzahlen muss, obwohl der VN-Ehegatte die Kürzung des Anrechts im Versorgungsausgleich hat hinnehmen müssen (Rechtsbeschwerde eingelegt):

Sachverhalt nach den Feststellungen des Oberlandesgerichts:

1.12.2002: Versicherungsbeginn mit Rentenbeginn 1.12.2019; garantierter Kapitalwert 30697,99EUR zuzüglich Überschussbeteiligung und Beteiligung an den Bewertungsreserven (VN = F); keine Feststellungen zu einem Kapitalwahlrecht
2018: Anhängigkeit eines Versorgungsausgleichsverfahrens
25.5.2018: Gericht fordert den VR zur Auskunft auf
11.6.2018: Auskunft des VR an das Amtsgericht
9.7.2019: Schreiben des VR an die VN-Ehegattin, diese habe die Wahl zwischen Rente und Kapital
10.9.2019: Antwort der VN-Ehegattin, sie wähle das Kapital
10.9.2019: Verhandlung über den Versorgungsausgleich vor dem Amtsgericht
25.9.2019: Beschluss des AG über den VA mit interner Teilung dieses Anrechts in Höhe von 9634,71 EUR mit Hinweis auf die Auskunft des VRs vom 11.6.2018 in der Begründung
29.11.2019: Mitteilung des VRs an die Ehegatten, dieser werde eine Kapitalabfind...

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