Zum 1.1.2002 wurde § 522 ZPO eingeführt[15]: Möglichkeit der Zurückweisung der Berufung durch einstimmigen Beschluss ohne mündliche Verhandlung bei Fehlen folgender Umstände: Erfolgsaussicht, grundsätzliche Bedeutung, Rechtsfortbildungserfordernis, Sicherung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung. Rechtsmittel: keines. Gleichzeitig: Einführung der Nichtzulassungsbeschwerde außer für Familiensachen (§ 26 Ziff. 9 EGZPO), also Erschwerung des Zugangs zum BGH.

Die Folge war eine teils "exzessive" Anwendung der Möglichkeit, von der Zurückweisung der Berufung ohne mündliche Verhandlung Gebrauch zu machen bei exorbitanten Unterschieden in den Anwendungsquoten (10,4 % OLG Bremen, 45 % OLG Zweibrücken).[16]

Deshalb war die Änderung des § 522 ZPO – rechtsmittelfähige Prüfung der Revisionszulassungsvoraussetzungen –[17] überfällig.

An den Familienstreitsachen geht dies alles indes alles völlig vorüber:

Zum einen gibt es bezüglich des Zugangs zum BGH überhaupt (Revisions- bzw. Rechtsbeschwerdezulassungspraxis) weiterhin nicht vernünftig erklärbare Unterschiede.[18] Das geflügelte Wort vom blauen bzw. – in einem südlicheren Bezirk – weißblauen Himmel, welcher sich über den Oberlandesgerichten und ihren Entscheidungen wölbe, betrifft allein die Verfahrenswirklichkeit. Der ideale Verfahrensrechtszustand besagt hingegen, einfach und klar, Folgendes: Der Bundesgerichtshof überwacht als Revisionsrichter die Oberlandesgerichte im Sinne der Stetigkeit der Rechtsprechung, also der Wahrung der Einheit des Rechts (rückblickender Aspekt) und seiner Fortbildung (prognostischer Aspekt). Da ihm allein – und sonst keinem Gericht, insbesondere nicht den Oberlandesgerichten – diese Aufgabe zugewiesen ist, ist auch nur er gesetzlicher Richter im Sinne des Art. 101 GG.[19] Verfahrensvorschriften, welche den Zugang zum Bundesgerichtshof abschneiden, müssen daher auch unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten geprüft werden, selbstverständlich unter Einbeziehung weiterer Gesichtspunkte, wie Missbrauch zur Verfahrensverschleppung, staatliche Ressourcen usw.; sie sind bekannt und müssen hier nicht nochmals dargelegt werden.

Mit diesen Überlegungen bewegen wir uns bereits im unmittelbaren Kernbereich der mit diesem Beitrag angesprochenen Problematik.

Zum anderen unterfallen die Familienstreitsachen jetzt nicht mehr § 522 ZPO, sondern § 68 Abs. 2 Satz 3 FamFG (§ 117 ZPO). Damit stehen die betroffenen Anwälte und ihre Mandanten noch schlechter da als je zuvor: War die Versagung einer mündlichen Verhandlung im zweiten Rechtszug nach der alten Rechtslage – kein Rechtsmittel zulässig – wenigstens noch an weitergehende gesetzliche Voraussetzungen geknüpft, genügt jetzt – ebenfalls nicht rechtsmittelfähig! –, dass von einer erneuten Verhandlung "keine zusätzlichen Erkenntnisse zu erwarten sind" (ebenfalls nicht rechtsmittelfähig).

Die Kriterien zur Zweckmäßigkeit der mündlichen Verhandlung – siehe oben – zeigen, dass man immer erst hinterher (niemals aber zuvor) sicher weiß, ob sie sich im Interesse der Beteiligten "gelohnt" hat oder nicht.

Mit § 68 Abs. 3 Satz 2 FamFG fallen die Familienstreitsachen weit hinter § 522 ZPO a.F. zurück. Die Vorschrift ist daher abzulehnen.

Diese gilt erst recht, wenn man diese Überlegungen mit dem Umstand verknüpft, dass der Weg zum BGH hier nur über die Zulassung eröffnet, also weitgehend verschlossen, weil nicht erzwingbar, ist.

[15] Gesetz zur Reform des Zivilprozesses vom 27.1.2001, BGBl 2001 I, S. 1887.
[16] Zu allem vgl. die Gesetzgebungsmaterialien zu § 522 ZPO n.F., etwa Sachverständigengutachten Bornkamm vom 3.5.2011.
[17] BGBl 2011 I, S. 2082.
[18] Herr, FF 2011, 475.
[19] Ausführlich mit Rechtsprechungsnachweisen Herr, FF 2011, 475.

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