GG Art. 2 Abs. 2 S. 1 3 Abs. 1 6 Abs. 2 S. 1 19 Abs. 1 S. 2; IfSG § 20 Abs. 8 Abs. 9 Abs. 12 Abs. 13; BGB §§ 1626 ff.

Leitsatz

1. Das Elternrecht (Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG) ist Freiheitsrecht im Verhältnis zum Staat, der in das Erziehungsrecht der Eltern nicht ohne rechtfertigenden Grund eingreifen darf. In der Beziehung zum Kind bildet aber das Kindeswohl die maßgebliche Richtschnur der elterlichen Pflege und Erziehung.

2. Die Entscheidung über die Vornahme von Impfungen bei entwicklungsbedingt noch nicht selbst entscheidungsfähigen Kindern ist ein wesentliches Element der elterlichen Gesundheitssorge und fällt in den Schutzbereich von Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG. Bei der Ausübung der am Kindeswohl zu orientierenden Gesundheitssorge für ihr Kind sind die Eltern jedoch weniger frei, sich gegen Standards medizinischer Vernünftigkeit zu wenden, als sie es kraft ihres Selbstbestimmungsrechts über ihre eigene körperliche Integrität wären.

3. Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG wird nicht vom Zitiergebot des Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG erfasst.

BVerfG, Beschl., v. 21.7.2022 – 1 BvR 469/20, 1 BvR 470/20, 1 BvR 471/20, 1 BvR 472/20

 

Anm. der Red.: Die Entscheidung ist abgedruckt in FamRZ 2022, 1690. Vgl. auch die Pressemitteilung des BVerfG Nr. 72/2022 v. 18.8.2022, abgedruckt in FF 2022, 426.

1 Anmerkung

1. Gegenstand der Entscheidung und Kontext

Die Entscheidung des BVerfG betreffen die Verfassungsmäßigkeit von § 20 Abs. 8 Satz 1 Nr. 1 IfSG (Bestehen einer Masernimpfung im Falle Betreuung in einer Kindertagesstätte) und § 20 Abs. 9 Satz 1 IfSG (Notwendigkeit der Vorlage eines Nachweises über diese Impfung bei Betreten der Kindertagesstätte). Beschwerdeführer waren sowohl die minderjährigen Kinder, die sich auf eine Verletzung ihrer körperlichen Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 1 GG) sowie einen Verstoß gegen das Gleichbehandlungsprinzip (Art. 3 Abs. 1 GG) beriefen, sowie deren Eltern, die sich auf einen Verstoß gegen das Elternrecht (Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG) beriefen. Nachdem das BVerfG in der Sache bereits entsprechende Eilrechtsschutzanträge abgelehnt hatte,[1] wies es die Verfassungsbeschwerden in der Hauptsache als unbegründet zurück, solange § 20 Abs. 8 Satz 3 IfSG verfassungskonform ausgelegt würde. Die bestehenden Grundrechtseingriffe seien in diesem Fall gerechtfertigt.

Es ging also nicht um eine gesetzlich bestehende unmittelbare Impfpflicht. Eine solche würde durch die genannten Vorschriften allerdings mittelbar erzeugt,[2] soweit man ein Kind in einer Einrichtung nach § 33 IfSG (z.B. Kindertagesstätte) fremdbetreuen lassen möchte, denn ohne die Impfung darf ein Kind nach § 20 Abs. 9 Satz 6 IfSG nicht betreut werden.

Die Entscheidung ist im Kontext zur einrichtungsbezogenen Impfpflicht gegen COVID-19 zu sehen.[3] Der zum 1.1.2023 mittlerweile aufgehobene § 20a IfSG aF sah eine Impfnachweispflicht für Personen vor, die in bestimmten Einrichtungen des Gesundheitswesens tätig sind. § 20a IfSG aF war nach Ansicht des BVerfG verfassungsgemäß.

2. Wesentliche Aspekte der Entscheidung

a) Erforderlichkeit der Impfung

Hier liegt ein Schwerpunkt der Entscheidung, da fraglich war, ob einer mittelbaren Impfpflicht nicht andere, gleich wirksame Mittel zur Erreichung des legitimen Zwecks des Schutzes vulnerabler Gruppen (Schwangere, Säuglinge bis 9 Lebensmonat, Personen mit Immunschwächen) vor den gefährlichen Folgen der nicht therapierbaren (!) und hoch ansteckenden Maserninfektion zur Verfügung stehen. Das BVerfG gewährt dem Gesetzgeber bei dieser Beurteilung einen Einschätzungsspielraum, den es verengt, wenn wichtige Grundrechte besonders intensiv betroffen sind, und erweitert, wenn die Sachverhaltsunsicherheiten groß sind. Einen bestehenden Ermessenspielraum überprüft das BVerfG nur im Rahmen einer "Vertretbarkeitskontrolle".[4] Das BVerfG setzt sich hier mit Einschätzungen verschiedener Vereine und Interessengruppen auseinander und kommt gut vertretbar in Anbetracht der niedrigen Impfquote (ca. 75 %) und der für Herdenimmunität erforderlichen Impfquote von 95 % zu dem Ergebnis, dass niedrigschwellige Angebote wie Informationskampagnen, die schon seit Jahrzehnten bestehen, nicht gleich wirksam zur Erreichung des angestrebten Zwecks wären.

Spannender war die Frage, ob in diesem Zusammenhang § 20 Abs. 8 Satz 3 IfSG problematisch ist, der eine Impfung auch mit einem sog. Kombinationsimpfstoff vorsieht. Durch diesen wird das Kind nämlich praktisch gezwungen, sich auch gleich gegen Röteln, Windpocken und/oder Mumps zu impfen.[5] Zwar erkennt das BVerfG, dass ein Monoimpfstoff wohl weniger eingriffsintensiv, weil zielgenauer wäre, und erwägt, dass der Gesetzgeber zur Beschaffung oder Herstellung solcher Impfstoffe verpflichtet sein könnte. Allerdings gibt es wohl jedenfalls in der EU keinen Markt mehr für Monoimpfstoffe gegen Masern. So verwirft das BVerfG diese Überlegung recht einsilbig mit dem Verweis auf eine (wohl finanzielle) Belastung der Allgemeinheit durch Beschaffung von Monoimpfstoffen. Hier überzeugt die Entscheidung nicht vollständig, denn es wird nicht ausgeführt, ob und...

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