I. 1. Ein 10-jähriges Kind verunglückt und erleidet schwerste Verletzungen. Nach monatelangem Krankenhausaufenthalt wird es entlassen. Mit erheblichen Folgebehandlungen ist zu rechnen. Seine Eltern klagen gegen den Schädiger ein Schmerzensgeld ein. Zusätzlich machen sie einen bezifferten, abgezinsten Zahlungsanspruch wegen aller denkbaren, späteren Behandlungskosten geltend. Für den Verkehrsrechtler wäre ein derartiges juristisches Szenario undenkbar. Man mag beim Schmerzensgeldanspruch noch einen bezifferten Antrag zulassen. Wegen der völligen Ungewissheit der zukünftigen materiellen Schäden wird ein solcher Zahlungsanspruch insoweit nicht ausgeurteilt werden. In der Praxis weicht man stattdessen auf einen Feststellungsantrag aus. Dieser hemmt die Verjährung. Sofern Unkosten anfallen, können diese dann jeweils als Schadenspositionen geltend gemacht werden.

2. Nach der jüngsten Entscheidung des BGH scheint das Familienrecht mit solchen Ansprüchen ganz anders umzugehen. Der "optimale (?) Betrachter" – ohnehin eine recht eigenwillige Wortschöpfung – soll angeblich in der Lage sein, ein zukünftiges Recht jedenfalls nach § 287 ZPO und unter Einschaltung eines Sachverständigen zu bewerten.

Spätestens die jetzige Entscheidung macht deutlich, dass die "sachverhaltsspezifische Bewertung", welche der BGH seit jeher bevorzugt,[1] eine letztlich rein ergebnisorientierte Judikatur darstellt. Mit den realen Wertverhältnissen hat sie wenig zu tun. Der BGH scheint das mathematische Gesetz, wonach eine einzige Gleichung mit zwei Unbekannten unlösbar ist, aushebeln zu wollen. Der gut gemeinte Lösungsversuch misslingt denn auch gänzlich. Vorliegend waren bei der Entscheidung u.a. folgende Komponenten völlig ungewiss:

  • Welche Provisionen würde der Zugewinnausgleichsschuldner – nach zwei Jahrzehnten! – bei seiner Firma erzielen? Der Durchschnitt der letzten drei Jahre der Betriebszugehörigkeit wäre für die Höhe der Provisionszahlung maßgebend.
  • Wie hoch ist die Erlebenswahrscheinlichkeit dieses Mitarbeiters? Wie hoch ist ohnehin die Wahrscheinlichkeit, dass er überhaupt noch – wiederum in zwei Jahrzehnten – in dem Unternehmen tätig sein wird? Wenn dies der Fall ist, wird er dann die Anspruchsvoraussetzungen erfüllen (in der Entscheidung war er mittlerweile in die Position eines Prokuristen aufgerückt)? Gilt zu diesem Zeitpunkt noch der Anspruch für Bezirksstellenleiter oder andere Angestellte oder hat die Rechtslage z.B. durch eine Änderungskündigung eine Modifikation erfahren?
  • Die Provisionszahlung hing u.a. vom Verteilsystem in der Lottogesellschaft ab. Insoweit standen gravierende Veränderungen an. Diese mussten vertraglich noch fixiert werden. Welche Vertragsgestaltung soll angenommen werden?

Alle Randdaten sind also gänzlich ungewiss. Wie soll der Anspruch nunmehr selbst durch den "optimalen" Betrachter bewertet werden? Weder zum Stichtag noch heute kann man die Entwicklung der Parameter vorhersagen. Das Ergebnis kann von Null bis zum denkbaren Höchstbetrag (allerdings wegen der sofortigen Zahlung abgezinst) schwanken. Zusätzlich wäre die in Zukunft entstehende Steuerlast als latente Verbindlichkeit zu beachten. Deren Höhe ist i.Ü. ebenso ungewiss. Der Hinweis auf den "sachverständig beratenen Tatrichter" wird bei Letzterem demnach allenfalls ein verständnisloses Kopfschütteln verursachen. Dieses offenbar als Allheilmittel bevorzugte Instrument der Rechtsfindung war ja bereits in der Entscheidung des BGH zur Bewertung eines Nießbrauchsrechtes[2] dem Tatrichter empfohlen worden. Diese Judikatur hat dazu geführt, dass entsprechende Fälle in der Praxis so gut wie unlösbar geworden sind: Seither sind keine Entscheidungen zu dem Problemkreis mehr veröffentlicht worden. Gerichte und Sachverständige stehen den Vorgaben des BGH ratlos gegenüber, wie verschiedene Teilnehmer dem Verfasser in Fortbildungsveranstaltungen berichtet haben. Solange der Sachverständige die Parameter nicht eindeutig festlegen kann, solange wird jede Betrachtung ebenso verwertbar wie unverwertbar sein. Derartige vom Gericht angeordnete Gutachten erzeugen eine von vornherein absehbare bloße Scheingenauigkeit. Sie wird mit teilweise ebenso teuren wie vielfach unbrauchbaren Gutachten kaschiert.

3. Einmal mehr zeigt dieses Urteil, dass solche Fälle nicht justiziabel sind. Sie eignen sich allenfalls für eine vergleichsweise Regelung. Diese muss noch nicht einmal einen Zahlungsanspruch zur Folge haben. Angesichts der immensen Kosten, die durch Gutachten und drei Instanzen entstehen können, müssten sich kluge Parteien eigentlich auf folgenden Kompromiss einigen können: Sie vereinbaren, dass der in der Ehezeit erworbene Anteil zu dem Zeitpunkt hälftig ausgezahlt wird, an dem der Ehepartner den Zahlungsanspruch tatsächlich realisiert. Bis dahin wird auf die Erhebung der Einrede der Verjährung verzichtet. Zur Absicherung des Ausgleichsberechtigten wird ihm vorsorglich der hälftige Anspruch der Abfindung abgetreten. Sofern dies nicht möglich ist, wird eine anderweitige Si...

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