Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichts Nr. 108/2022 vom 15.12.2022

Beschlüsse vom 24.10.2022 – 1 BvR 19/22, 1 BvR 110/22

Die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts hat mit heute veröffentlichten Beschlüssen zwei Verfassungsbeschwerden der Witwe und Alleinerbin des verstorbenen vormaligen Bundeskanzlers Dr. Helmut Kohl (fortan: "Erblasser") nicht zur Entscheidung angenommen. Die Verfassungsbeschwerden richteten sich gegen zivilgerichtliche Entscheidungen, die auf das postmortale Persönlichkeitsrecht gestützte Klagen auf Unterlassung sowie auf Zahlung einer Geldentschädigung betrafen.

Sachverhalt:

Gegenstand der einen Verfassungsbeschwerde sind gerichtliche Entscheidungen in einem zunächst vom Erblasser und nach dessen Tod von der Beschwerdeführerin gegen die Beklagten geführten Verfahren gerichtet auf Unterlassung der Veröffentlichung und Verbreitung von 116 Passagen des Buches "Vermächtnis – Die Kohl-Protokolle". Die angegriffenen Urteile des Oberlandesgerichts und des Bundesgerichtshofs sahen die Unterlassungsklage nur teilweise als begründet an.

Die andere Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen gerichtliche Urteile, die das Fortbestehen des Geldentschädigungsanspruchs wegen Verletzung des Persönlichkeitsrechts des Erblassers über dessen Tod hinaus betrafen. Der Erblasser hatte die Beklagten im Zusammenhang mit der Veröffentlichung des Buches "Vermächtnis – Die Kohl-Protokolle" auf Geldentschädigung in Höhe von 5 Millionen EUR in Anspruch genommen. Nach dem Versterben des Erblassers während des Berufungsverfahrens wies das Oberlandesgericht die von der Beschwerdeführerin als Alleinerbin fortgeführte Klage insgesamt ab. Die hiergegen gerichtete Revision blieb ohne Erfolg.

Wesentliche Erwägungen der Kammer:

Die Verfassungsbeschwerden sind nicht zur Entscheidung anzunehmen.

I. Die Verfassungsbeschwerde betreffend die Unterlassungsklage hat keine hinreichende Aussicht auf Erfolg. Die Beschwerdeführerin ist als Alleinerbin des Erblassers zwar befugt, dessen postmortales Persönlichkeitsrecht im Wege der Verfassungsbeschwerde geltend zu machen. Sie hat ihre Verfassungsbeschwerde jedoch nicht hinlänglich substantiiert begründet.

1. Träger des allgemeinen Persönlichkeitsrechts aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG sind nur lebende Personen. Das Fortwirken des Persönlichkeitsrechts nach dem Tode ist zu verneinen. Über den Tod des Menschen hinaus bleibt jedoch der Schutzauftrag des Art. 1 Abs. 1 GG bestehen. Es würde mit dem verfassungsverbürgten Gebot der Unverletzlichkeit der Menschenwürde, das allen Grundrechten zugrunde liegt, unvereinbar sein, wenn der Mensch, dem Würde kraft seines Personseins zukommt, in diesem allgemeinen Achtungsanspruch nach seinem Tode herabgewürdigt oder erniedrigt werden dürfte.

a) Die Schutzwirkungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts sind mit dem aus Art. 1 Abs. 1 GG resultierenden Schutz nicht identisch. Das Bundesverfassungsgericht betont vielmehr in ständiger Rechtsprechung die Differenz zwischen Menschenwürde und allgemeinem Persönlichkeitsrecht, wie sich etwa daraus ergibt, dass die Menschenwürde im Konflikt mit der Meinungsfreiheit nicht abwägungsfähig ist, während es bei einem Konflikt der Meinungsfreiheit mit dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht regelmäßig zu einer Abwägung kommt. Unabhängig von der Frage, wie weit der Achtungsanspruch Verstorbener im Einzelfall geht, reicht er jedenfalls nicht weiter als der Ehrschutz lebender Personen.

b) Zwar kann das Unterschieben nicht getätigter Äußerungen wie auch die unrichtige, verfälschte und entstellte Wiedergabe einer Äußerung, insbesondere in Zitatform, das allgemeine Persönlichkeitsrecht in besonderem Maße berühren. Um von einer die Menschenwürde in ihrem unantastbaren Kern treffenden Verletzung auszugehen, muss jedoch eine grobe Herabwürdigung und Erniedrigung des allgemeinen Achtungsanspruchs, der dem Menschen kraft seines Personseins zusteht, oder des sittlichen, personalen und sozialen Geltungswerts, den die Person durch ihre eigene Lebensleistung erworben hat, dargelegt werden.

2. Die Beschwerdeführerin hat nicht darlegen können, dass durch die angegriffenen Passagen der aus Art. 1 Abs. 1 GG folgende allgemeine Achtungsanspruch des Erblassers grob herabgewürdigt oder erniedrigt wurde. Der vom Erblasser durch seine Lebensleistung erworbene sittliche, personale und soziale Geltungswert ist jedenfalls nicht in einer den Kern der Menschenwürde erfassenden Weise verletzt worden. Durch die freiwillige Preisgabe von Erinnerungen aus der Zeit seiner politischen Verantwortungsübernahme gegenüber einem vertraglich zur Anfertigung von Entwürfen seiner Memoiren verpflichteten Journalisten ist nicht der innerste Kern der Persönlichkeit des Erblassers betroffen. Unter Beachtung des verfassungsrechtlichen Prüfungsmaßstabs sind die angegriffenen Urteile nicht zu beanstanden. Der Bundesgerichtshof hat – wie schon das Oberlandesgericht – seinem Urteil die zutreffenden verfassungsgerichtlichen Entscheidungen z...

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