Zumindest ab Geltungsbeginn der neu gefassten Brüssel IIb-VO wird das Prinzip automatischer (verfahrensrechtlicher) Anerkennung für "Vereinbarungen über eine Trennung ohne Auflösung des Ehebandes und eine Ehescheidung, die im Ursprungsmitgliedstaat rechtsverbindliche Wirkung haben" durch Art. 65 Abs. 1 S. 1 Brüssel IIb-VO endgültig verwirklicht. Die Anerkennung einer Vereinbarung i.S.v. Art. 65 Abs. 1 S. 1 Brüssel IIb-VO setzt die Vorlage einer von den zuständigen Behörden des Ursprungsmitgliedstaats ausgestellten Bescheinigung voraus (arg. e Art. 66 Abs. 5 Brüssel IIb-VO); diese ist nur zu erteilen, wenn die Gerichte des Ursprungsmitgliedstaats für eine hypothetische gerichtliche Scheidung nach Art. 3 ff. Brüssel IIb-VO international zuständig sind (Art. 66 Abs. 2 lit. a Brüssel IIb-VO) und die Vereinbarung nach dem innerstaatlichen Recht des Ursprungsmitgliedstaats rechtsverbindlich ist (Art. 66 Abs. 2 lit. b Brüssel IIb-VO). Mit dem endgültigen Wegfall des Erfordernisses eines förmlichen Anerkennungsverfahrens nach dem autonomen Anerkennungsrecht (vgl. § 107 Abs. 1 S. 1 FamFG) wird zwar die wünschenswerte unionsweite Wirkung von in der EU ausgesprochenen Privatscheidungen endlich gefördert; für eine Wirksamkeitsprüfung nach dem kollisionsrechtlich zu ermittelnden IPR ist für solche Privatscheidungen, die vom Anwendungsbereich der Brüssel IIb-VO erfasst sind, jedenfalls kein Raum (Art. 70 Brüssel IIb-VO). Freilich zeichnen sich bereits jetzt mehrere klärungsbedürftige Auslegungsfragen auf, die hier nur angerissen werden können. Im Besonderen erscheint, worauf Gruber und Möller hinweisen, das Konkurrenzverhältnis zwischen Art. 30 ff. und Art. 64 ff. Brüssel IIb-VO unsicher.[69] Mit Rücksicht auf das insoweit mehrdeutige Sahyouni II-Urteil des EuGH stellt sich auch unter der Brüssel IIb-VO die Frage, mit welchen Maßgaben die Beurkundung oder Registrierung einer Privatscheidung als "Entscheidung" i.S.v. Art. 2 Abs. 2 Brüssel IIb-VO nach Art. 30 ff. Brüssel IIb-VO und somit nicht nach dem – augenscheinlich subsidiären (vgl. Erwgr. 14 S. 3 Brüssel IIb-VO) – Anerkennungssystem der Art. 64 ff. Brüssel IIb-VO anerkennungsfähig ist. Zudem ist zweifelhaft, ob die Brüssel IIb-VO abschließende Wirkung entfaltet oder für einen Rückgriff auf das einzelstaatliche Anerkennungsrecht Raum lässt, soweit eine automatische Anerkennung nach der Brüssel IIb-VO ausscheidet (sog. Günstigkeitsprinzip).[70] Praktisch bedeutsam ist dies, wenn die für die Ausstellung der erforderlichen Bescheinigung nach Art. 66 Abs. 2 lit. a Brüssel IIb-VO vorausgesetzte internationale Zuständigkeit der Gerichte des Ursprungsmitgliedstaats gem. Art. 3 ff. Brüssel IIb-VO nicht gegeben ist, das Recht dieses Staats aber qua nachträglicher Rechtswahl nach Art. 17 Abs. 2 Nr. 3 EGBGB zum Ehescheidungsstatut auserkoren und damit eine Anerkennung der Privatscheidung im obligatorischen Anerkennungsverfahren nach § 107 Abs. 1 S. 1 FamFG ermöglicht werden könnte.[71]

[69] Gruber/Möller, IPRax 2020, 393, 401 f.
[70] Gruber/Möller, IPRax 2020, 393, 403; tendenziell wurde Art. 21 ff. Brüssel IIa-VO in der Literatur bislang abschließende Wirkung attestiert, vgl. MüKo-FamFG/Rauscher, 3. Aufl. 2018, § 97 FamFG Rn 14.
[71] Gruber/Möller, IPRax 2020, 393, 403 verweisen auf eine Situation, in der sich ein deutsch-französisches Ehepaar mit gewöhnlichem Aufenthalt in Deutschland kraft Vereinbarung vor einem Notar in Frankreich scheiden lässt und sodann die Anerkennung der Privatscheidung in Deutschland begehrt. Misst man dem Anerkennungsregime der Brüssel IIb-VO abschließende Wirkung zu, wäre die Privatscheidung im Inland nicht anerkennungsfähig, da die französischen Behörden – mangels internationaler Zuständigkeit französischer Gerichte – die Ausstellung einer Bescheinigung nach Art. 66 Abs. 2 lit. a Brüssel IIb-VO versagen würden. Das Fallbeispiel macht exemplarisch den Schwachpunkt des insoweit unveränderten Zuständigkeitssystems sichtbar: Weshalb der Unionsgesetzgeber trotz der verbreiteten wissenschaftlichen Kritik an Art. 3 Brüssel IIa-VO auch bei der Reform daran festgehalten hat, lediglich einen gemeinsamen Heimatgerichtsstand nach Art. 3 lit. b Brüssel IIb-VO zu eröffnen, ohne den Parteien die Möglichkeit einzuräumen, einvernehmlich einen einseitigen Heimatgerichtsstand zu vereinbaren, ist nicht einsichtig und lässt sich jedenfalls nicht mit dem Ziel, forum shopping zu unterbinden, legitimieren; zutreffend m.E. MüKo-FamFG/Gottwald (Fn 74), Art. 3 Brüssel IIa-VO Rn 32 f.

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