Nehmen Familiengerichte und Jugendämter Aufgaben zum Schutz eines Kindes wahr und gelingt es ihnen nicht, das Kind tatsächlich zu schützen, kann dies nicht nur zu erheblichen Schädigungen für das Kind, sondern auch zu Erschütterungen im Kinderschutzsystem führen. Der sog. "Staufener Missbrauchsfall"[1] ist ein solcher "high profile-Fall", der bundesweit Aufmerksamkeit erlangt und Betroffenheit und Empörung ausgelöst hat.[2] Dass Fehlschläge im Kinderschutz eingehende öffentliche Auseinandersetzung erfahren,[3] mitunter auch medial "inszeniert" werden,[4] ist kein exklusiv deutsches Phänomen,[5] sondern im internationalen Kontext eher ein Zeichen für ausreichend lebendiges Empfinden in Gesellschaft und Fachwelt für die Mitverantwortung der staatlichen Gemeinschaft für den Schutz von Kindern (Art. 6 Abs. 2 GG). Wenn die Stimmung aber in eine Schuldzuweisungs-Kultur (blaming culture) umschwenkt, kann die Anteilnahme erhebliche negative Auswirkungen für das Kinderschutzsystem haben. Die konkret betroffenen "risikogefährdeten Kinderschutzorganisationen"[6] erholen sich nach einem solchen tragischen Fall häufig dauerhaft nicht mehr.[7] Die überregional erzeugte Dynamik kann sich dequalifizierend auf die Qualität der Kinderschutzarbeit insgesamt auswirken und zu Absicherungsmentalität und bürokratisierten Beteiligungs- und Beratungsprozessen führen.[8]

Werden problematische Fallverläufe im Kinderschutz hingegen als Kette von Systemproblemen und nicht als das persönliche Versagen der Letzten in der Kette verstanden, können sie als Aufforderung zur Schärfung der Reflexivität des eigenen Handelns[9] und der Abläufe verstanden und genutzt werden.[10] Entsprechend soll der Anlass im vorliegenden Beitrag genutzt werden, um die Horizonte mit einem vergleichenden Blick auf die Kinderschutzverfahren jenseits der deutschen Grenzen zu erweitern. Im "Staufener Missbrauchsfall" wurden Aspekte der Qualifizierung von Familienrichter*innen[11] sowie der Organisation der Familiengerichte (siehe unten II.), der Kindesanhörung (III.) sowie der Eingriffskonzepte (IV.) engagiert debattiert. Der Beitrag vergleicht das Kinderschutzverfahren in Deutschland mit demjenigen in anderen Ländern, um hieraus Denkanstöße für eine weitere Qualifizierung der Praxis und Weiterentwicklung der Strukturen zu geben.

[1] OLG Karlsruhe, Beschl. v. 27.7.2017 – 18 UF 112/17; AG Freiburg, Beschl. v. 6.4.2017 – 46 F 798/17; OLG Karlsruhe/AG Freiburg/Landratsamt Breisgau-Hochschwarzwald, Abschlussbericht. Untersuchung der Kommunikation zwischen den beteiligten Behörden und Gerichten bei der Gefährdung des Kindeswohls sowie der Überwachung der Einhaltung von gerichtlichen Ge- und Verboten aus Anlass des "Staufener Missbrauchsfalls", 2018.
[2] Z.B. Schnitzler, FF 2018, 417; Fegert/Kliemann, FF 2018, 223 ff.; Salgo, ZKJ 2018, 168 ff.; Heilmann, FamRZ 2018, 1797 ff.; Balloff, RPsych 2018, 443 ff.
[3] NZFH/Gerber/Lillig, Gemeinsam lernen aus Kinderschutzverläufen, 2018; Kindler/Gerber/Lillig, Wissenschaftliche Analyse zum Kinderschutzhandeln des Allgemeinen Sozialen Dienstes im Landkreis Breisgau-Hochschwarzwald im Todesfall des Kindes A., DJI (Hrsg.), 2016; Schrapper, JAmt 2013, 2 ff.; Wolff/Flick/Ackermann/Biesel/Brandhorst/Heinitz/Patschke/Röhnsch, Aus Fehlern lernen – Qualitätsmanagement im Kinderschutz, 2013; Biesel, Wenn Jugendämter scheitern. Zum Umgang mit Fehlern im Kinderschutz, 2011.
[4] Siehe etwa Tsokos/Guddat, Deutschland misshandelt seine Kinder, 2014. Zu diesem Phänomen Fegert/Ziegenhain/Fangerau, Problematische Kinderschutzverläufe – Mediale Skandalisierung, fachlicher Fehleranalyse und Strategien zur Verbesserung des Kinderschutzes, 2010.
[5] Zum Vereinigten Königreich etwa Lord Laming, JAmt 2010, 540 ff.; Munro, JAmt 2009, 106 ff.
[6] Wolff, Forum Erziehungshilfen 2007, 132 (136).
[7] Eindrucksvoller Beleg hierzu siehe Enquete-Kommission "Kinderschutz und Kinderrechte weiter stärken", Bericht, Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg, Drucks. 21/16000 vom 19.12.2018.
[8] Siehe zu entsprechenden Erfahrungen aus England und Australien Lonne/Parton, Child Abuse & Neglect 2014, 822 ff.; Munro, The Munro review of child protection: Final report. A child centred system, 2011.
[9] Schön, The Reflective Practitioner, 1983, S. 272 ff.
[10] NZFH/Gerber/Lillig (Fn 3), S. 16 f.
[11] Fegert/Kliemann, FF 2018, 223 ff.

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