Mathias Grandel

Unterhaltsberechnungen nach deutschem Recht sind wie Steuererklärungen utopisch weit davon entfernt, auf einem Bierdeckel angefertigt werden zu können. Zum Zweck einer vermeintlichen Einzelfallgerechtigkeit wird alles bis ins kleinste Detail atomisiert. Das belegt sich augenscheinlich im Unterhaltsberechnungsprogramm von Gutdeutsch. Die vorzunehmenden Eingaben werden zunehmend umfangreicher, die Ausdrucke von Version zu Version immer länger. Eine mittelmäßig komplizierte Unterhaltsberechnung mit Kindes- und Ehegattenunterhalt umfasste früher maximal drei Seiten. Heute ist es unter sechs Seiten kaum zu machen. Häufig spielen jetzt zwei Ehefrauen für die Berechnung eine Rolle. Für jede müssen die Angaben eingegeben werden und die Kinder müssen einzeln zugeordnet werden. Für den Umfang der Gutdeutsch-Ausdrucke müssen ganze Regenwälder ihr Leben lassen. Immer wieder finden sich Schriftsätze und Urteile, die über 20 Seiten für verschiedene Unterhaltszeiträume Gutdeutsch-Berechnung an Gutdeutsch-Berechnung reihen. Das ist keine Kritik an diesem herausragenden Berechnungsprogramm, sondern am Perfektionsdrang deutschen Unterhaltsrechts. Dass bei der Ermittlung des Bedarfs und der Bedürftigkeit mit großer Akribie gearbeitet wird, steht allerdings in auffälligem Widerspruch zur Handhabung der Frage, wie lang denn der so aufwändig ermittelte Unterhalt zu zahlen ist. Bei der Frage der Befristung und Herabsetzung ergehen wir uns, vom Gesetzgeber erzwungen, in vagen Hypothesen, wie die Erwerbsbiografie wohl verlaufen wäre, wenn es nicht zur Eheschließung gekommen wäre. Manche sagen, man müsse eben Wertungen vornehmen, das gehöre schließlich zum Handwerkszeug des Juristen. Das ist richtig und doch falsch zugleich. In der Anwendung von Gesetzen gehört es zum Rüstzeug, Wertungen vorzunehmen. Wertungen sind allerdings von Mutmaßungen zu unterscheiden. Wertungen erschaffen und ersetzen keine Tatsachen, sondern setzen sie voraus. Die hypothetische Bewertung von Lebensläufen hat kaum eine Tatsachenbasis. Vielmehr werden Mutmaßungen anhand des Maßstabs der Wahrscheinlichkeit miteinander verglichen. Das ist etwas ganz anderes. Das ist schon deshalb ein Irrweg, weil sich Lebensläufe und Erwerbsbiografien nicht danach entwickeln, ob sie wahrscheinlich sind. Neben einem Element der Planung spielen Zufall und Schicksal eine gleichwertige Rolle. Deswegen ist die Wahrscheinlichkeit kein tauglicher Prüfungsmaßstab. Bei der Entscheidung des BGH zum Fall der "Cheftexterin" (BGH FF 2010, 21 mit Anm. Reinken, in diesem Heft) fällt auf, dass es sich um eine "klinisch reine" Fallgestaltung handelt. Der BGH mutmaßt seinerseits, dass die als Gymnasiallehrerin ausgebildete Ehefrau auch neun Jahre später noch "Cheftexterin" wäre, wenn sie nicht geheiratet hätte. Diese Mutmaßung wird mit dem Argument gestärkt, dass die gegenteilige Annahme ihrerseits eine bloße Mutmaßung sei, sozusagen Mutmaßung gegen Mutmaßung. Zu welcher Mutmaßung hätte der BGH wohl geneigt, wenn der Betrieb, in dem die Ehefrau als Cheftexterin tätig war, beispielsweise kurz nach dem Ausscheiden der Antragstellerin in Insolvenz verfallen und aufgelöst worden wäre? Mutmaßung 1: sie hätte als Cheftexterin zu gleich gutem Gehalt wieder eine neue Stelle gefunden gegen Mutmaßung 2: sie wäre dann in ihren angestammten und geringer bezahlten Beruf als Gymnasiallehrerin zurückgekehrt. Wie wäre zu mutmaßen gewesen, wenn die Tätigkeit als Cheftexterin nicht vor neun Jahren, sondern vor 15 Jahren aufgegeben worden wäre? Vielleicht implementiert Herr Gutdeutsch für diese Fragen noch einen Zufallsgenerator in sein Programm.

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