Entscheidungsstichwort (Thema)

Vorlage zur Vorabentscheidung. Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten. Nationale Regelung, die den Zugang der Öffentlichkeit zu personenbezogenen Daten über Strafpunkte für Verkehrsverstöße vorsieht. Rechtmäßigkeit. Begriff der ‚personenbezogenen Daten über strafrechtliche Verurteilungen und Straftaten’. Offenlegung zum Zweck der Verbesserung der Straßenverkehrssicherheit. Zugangsrecht der Öffentlichkeit zu amtlichen Dokumenten. Informationsfreiheit. Ausgleich mit den Grundrechten auf Achtung des Privatlebens und auf Schutz personenbezogener Daten. Weiterverwendung der Daten. Zeitliche Wirkungen einer Vorabentscheidung. Für das Verfassungsgericht eines Mitgliedstaats bestehende Möglichkeit, die Rechtswirkungen einer mit dem Unionsrecht unvereinbaren nationalen Regelung aufrechtzuerhalten. Grundsätze des Vorrangs des Unionsrechts und der Rechtssicherheit

 

Normenkette

EUVO 679/2016 Art. 5-6, 10; AEUV Art. 267

 

Beteiligte

Latvijas Republikas Saeima

B

 

Tenor

1. Art. 10 der Verordnung (EU) 2016/679 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46/EG (Datenschutz-Grundverordnung) ist dahin auszulegen, dass er auf die Verarbeitung personenbezogener Daten über Strafpunkte, die gegen Fahrzeugführer wegen Verkehrsverstößen verhängt wurden, anwendbar ist.

2. Die Bestimmungen der Verordnung (EU) 2016/679, insbesondere ihr Art. 5 Abs. 1, ihr Art. 6 Abs. 1 Buchst. e und ihr Art. 10, sind dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, die die mit dem Register, in das die gegen Fahrzeugführer wegen Verkehrsverstößen verhängten Strafpunkte eingetragen werden, betraute öffentliche Einrichtung verpflichtet, diese Daten der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, ohne dass die Person, die den Zugang beantragt, ein besonderes Interesse am Erhalt dieser Daten nachzuweisen hat.

3. Die Bestimmungen der Verordnung (EU) 2016/679, insbesondere ihr Art. 5 Abs. 1, ihr Art. 6 Abs. 1 Buchst. e und ihr Art. 10, sind dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, die es der mit dem Register, in das die gegen Fahrzeugführer wegen Verkehrsverstößen verhängten Strafpunkte eingetragen werden, betrauten öffentlichen Einrichtung erlaubt, diese Daten Wirtschaftsteilnehmern zur Weiterverwendung zu übermitteln.

4. Der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts ist dahin auszulegen, dass er es dem Verfassungsgericht eines Mitgliedstaats, bei dem ein Rechtsbehelf gegen eine nationale Regelung anhängig ist, die im Licht einer Vorabentscheidung des Gerichtshofs mit dem Unionsrecht unvereinbar ist, verwehrt, in Anwendung des Grundsatzes der Rechtssicherheit zu entscheiden, dass die Rechtswirkungen dieser Regelung bis zum Zeitpunkt der Verkündung des Urteils, mit dem es endgültig über diesen verfassungsrechtlichen Rechtsbehelf entscheidet, aufrechterhalten werden.

 

Tatbestand

In der Rechtssache

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Latvijas Republikas Satversmes tiesa (Verfassungsgericht, Lettland) mit Entscheidung vom 4. Juni 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 11. Juni 2019, in dem Verfahren auf Betreiben von

B,

Beteiligte:

Latvijas Republikas Saeima,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, der Vizepräsidentin R. Silva de Lapuerta, der Kammerpräsidenten J.-C. Bonichot, A. Arabadjiev, E. Regan, M. Ilešič (Berichterstatter) und N. Piçarra, der Richter E. Juhász, M. Safjan, D. Šváby, S. Rodin und F. Biltgen, der Richterin K. Jürimäe sowie der Richter C. Lycourgos und P. G. Xuereb,

Generalanwalt: M. Szpunar,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

  • der lettischen Regierung, ursprünglich vertreten durch V. Soņeca und K. Pommere, dann durch K. Pommere als Bevollmächtigte,
  • der niederländischen Regierung, vertreten durch K. Bulterman und M. Noort als Bevollmächtigte,
  • der österreichischen Regierung, vertreten durch J. Schmoll und G. Kunnert als Bevollmächtigte,
  • der portugiesischen Regierung, vertreten durch L. Inez Fernandes, P. Barros da Costa, A. C. Guerra und I. Oliveira als Bevollmächtigte,
  • der schwedischen Regierung, vertreten durch C. Meyer-Seitz, H. Shev, H. Eklinder, R. Shahsavan Eriksson, A. Runeskjöld, M. Salborn Hodgson, O. Simonsson und J. Lundberg als Bevollmächtigte,
  • der Europäischen Kommission, vertreten durch D. Nardi, H. Kranenborg und I. Rubene als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 17. Dezember 2020

folgendes

Urteil

 

Entscheidungsgründe

Rz. 1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 5, 6 und 10 der Verordnung (EU) 2016/679 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur...

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