Entscheidungsstichwort (Thema)

Rechtsmittel. Staatliche Beihilfen. Polnische Einzelhandelssteuer. Beschluss zur Einleitung des förmlichen Prüfverfahrens. Anhaltspunkte für die Bestimmung des Referenzsystems. Progression der Steuersätze. Vorliegen eines selektiven Vorteils. Beweislast

 

Normenkette

AEUV Art. 107 Abs. 1, Art. 108 Abs. 2

 

Beteiligte

Kommission/ Polen

Europäische Kommission

Republik Polen

 

Tenor

1. Das Rechtsmittel wird zurückgewiesen.

2. Die Europäische Kommission trägt die Kosten.

3. Ungarn trägt seine eigenen Kosten.

 

Tatbestand

In der Rechtssache

betreffend ein Rechtsmittel nach Art. 56 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union, eingelegt am 24. Juli 2019,

Europäische Kommission, vertreten durch K. Herrmann, P.-J. Loewenthal und V. Bottka als Bevollmächtigte,

Rechtsmittelführerin,

andere Parteien des Verfahrens:

[berichtigt mit Beschluss vom 13. April 2021] Republik Polen, vertreten durch B. Majczyna, M. Rzotkiewicz, M. Szydło als Bevollmächtigte,

Klägerin im ersten Rechtszug,

Ungarn, vertreten durch M. Z. Fehér und G. Koós als Bevollmächtigte,

Streithelfer im ersten Rechtszug,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, der Vizepräsidentin R. Silva de Lapuerta, der Kammerpräsidenten J.-C. Bonichot (Berichterstatter), A. Arabadjiev, E. Regan, A. Kumin und N. Wahl, der Richter M. Safjan, D. Šváby, S. Rodin und F. Biltgen, der Richterin K. Jürimäe sowie der Richter C. Lycourgos, P. G. Xuereb und N. Jääskinen,

Generalanwältin: J. Kokott,

Kanzler: R. Şereş, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 1. September 2020,

nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 15. Oktober 2020

folgendes

Urteil

 

Entscheidungsgründe

Rz. 1

Mit ihrem Rechtsmittel begehrt die Europäische Kommission die Aufhebung des Urteils des Gerichts der Europäischen Union vom 16. Mai 2019, Polen/Kommission (T-836/16 und T-624/17, im Folgenden: angefochtenes Urteil, EU:T:2019:338). In diesem Urteil hat das Gericht zum einen den Beschluss C(2016) 5596 final der Kommission vom 19. September 2016 über die Maßnahme SA.44351 (2016/C) (ex 2016/NN) – Polen – Polnische Einzelhandelssteuer, mit dem das förmliche Prüfverfahren nach Art. 108 Abs. 2 AEUV in Bezug auf diese Maßnahme eingeleitet und der Republik Polen aufgegeben wurde, die Anwendung des progressiven Steuersatzes der Einzelhandelssteuer auszusetzen (im Folgenden: Beschluss zur Einleitung des förmlichen Prüfverfahrens), und zum anderen den Beschluss (EU) 2018/160 der Kommission vom 30. Juni 2017 über die staatliche Beihilfe SA.44351 (2016/C) (ex 2016/NN), die Polen in Bezug auf die Einzelhandelssteuer gewährt hat (ABl. 2018, L 29, S. 38, im Folgenden: Negativbeschluss) (im Folgenden zusammen: streitige Beschlüsse), für nichtig erklärt.

Vorgeschichte des Rechtsstreits

Rz. 2

Das Gericht hat die Vorgeschichte des Rechtsstreits in den Rn. 1 bis 16 des angefochtenen Urteils dargestellt. Sie lässt sich wie folgt zusammenfassen.

Rz. 3

Zu Beginn des Jahres 2016 fasste die polnische Regierung die Einführung einer neuen Einzelhandelssteuer ins Auge, die sich nach dem Umsatz bemessen und progressiv ausgestaltet sein sollte.

Rz. 4

Nachdem die Kommission von diesem Vorhaben Kenntnis erlangt hatte, übermittelte sie den polnischen Behörden ein Auskunftsersuchen, in dem sie darauf hinwies, dass die Sätze der progressiven Umsatzsteuer de facto an die Größe des Unternehmens anknüpften und nicht an seine Rentabilität, so dass sie zu einer Diskriminierung zwischen Unternehmen führten und geeignet seien, schwerwiegende Störungen des Marktes zu verursachen. Diese Sätze führten zu einer Ungleichbehandlung der Unternehmen und seien daher als selektiv anzusehen. Da alle Voraussetzungen des Art. 107 Abs. 1 AEUV erfüllt seien, stellten sie „staatliche Beihilfen” im Sinne dieser Bestimmung dar.

Rz. 5

Am 6. Juli 2016 erließ die Republik Polen das Einzelhandelssteuergesetz, das den Einzelhandelsverkauf von Waren an natürliche Personen als Verbraucher betrifft und am 1. September 2016 in Kraft trat (im Folgenden: fragliche steuerliche Maßnahme). Steuerschuldner sind alle Einzelhändler ohne Rücksicht auf ihre Rechtsform. Bemessungsgrundlage ist der monatliche Umsatz, der 17 Mio. polnische Zloty (PLN) (ungefähr 3 750 000 Euro) übersteigt. Liegt der monatliche Umsatz unter diesem Betrag, fällt keine Steuer an. Bei einem höheren monatlichen Umsatz beträgt der Steuersatz für den zwischen 17 Mio. und 170 Mio. PLN (ungefähr 37 500 000 Euro) liegenden Teil 0,8 % und für den darüber liegenden Teil 1,4 %.

Rz. 6

Am 19. September 2016 erließ die Kommission den Beschluss zur Einleitung des förmlichen Prüfverfahrens. Mit diesem Beschluss setzte sie den polnischen Behörden nicht nur eine Frist zur Äußerung, sondern gab ihnen auch gemäß Art. 13 Abs. 1 der Verordnung (EU) 2015/1589 des Rates vom 13. Juli 2015 über besondere Vorschriften für die Anwendung von Artikel 108 [AEUV] (ABl. 2015, L 248, S. 9) auf, unverzüglich „die Anwendung de...

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