Entscheidungsstichwort (Thema)

Vorabentscheidungsersuchen. Schutz vor Ausweisung. Berechnung des Zeitraums von zehn Jahren. Berücksichtigung von Zeiträumen der Verbüßung einer Freiheitsstrafe

 

Normenkette

Richtlinie 2004/38/EG Art. 28 Abs. 3 Buchst. a

 

Beteiligte

G

Secretary of State for the Home Department

M. G

 

Tenor

1. Art. 28 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG ist dahin auszulegen, dass der Aufenthaltszeitraum von zehn Jahren im Sinne dieser Bestimmung grundsätzlich ununterbrochen gewesen sein muss und vom Zeitpunkt der Verfügung der Ausweisung des Betroffenen an zurückzurechnen ist.

2. Art. 28 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2004/38 ist dahin auszulegen, dass ein Zeitraum der Verbüßung einer Freiheitsstrafe durch den Betroffenen grundsätzlich geeignet ist, die Kontinuität des Aufenthalts im Sinne dieser Bestimmung zu unterbrechen und sich damit auf die Gewährung des dort vorgesehenen verstärkten Schutzes auch in dem Fall auszuwirken, dass sich diese Person vor dem Freiheitsentzug zehn Jahre lang im Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten hat. Gleichwohl kann dieser Umstand bei der umfassenden Beurteilung berücksichtigt werden, die für die Feststellung, ob die zuvor mit dem Aufnahmemitgliedstaat geknüpften Integrationsverbindungen abgerissen sind, vorzunehmen ist.

 

Tatbestand

In der Rechtssache

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Upper Tribunal (Immigration and Asylum Chamber), London (Vereinigtes Königreich), mit Entscheidung vom 24. August 2012, beim Gerichtshof eingegangen am 31. August 2012, in dem Verfahren

Secretary of State for the Home Department

gegen

M. G.

erlässt

DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)

unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta (Berichterstatterin) sowie der Richter J. L. da Cruz Vilaça, G. Arestis, J.-C. Bonichot und A. Arabadjiev,

Generalanwalt: M. Wathelet,

Kanzler: L. Hewlett, Hauptverwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 20. Juni 2013,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

  • von Frau G., vertreten durch R. Drabble, QC, L. Hirst, Barrister, und E. Sibley,
  • der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch A. Robinson als Bevollmächtigten im Beistand von R. Palmer, Barrister,
  • der estnischen Regierung, vertreten durch M. Linntam und N. Grünberg als Bevollmächtigte,
  • von Irland, vertreten durch E. Creedon als Bevollmächtigte im Beistand von D. Conlan Smyth, Barrister,
  • der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna und M. Szpunar als Bevollmächtigte,
  • der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Wilderspin und C. Tufvesson als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

 

Entscheidungsgründe

Rz. 1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 28 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. L 158, S. 77, Berichtigung im ABl. L 229, S. 35).

Rz. 2

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem Secretary of State for the Home Department (Innenminister, im Folgenden: Secretary of State) und Frau G. wegen einer Verfügung, sie aus dem Vereinigten Königreich auszuweisen.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Rz. 3

Die Erwägungsgründe 23 und 24 der Richtlinie 2004/38 lauten:

„(23) Die Ausweisung von Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit ist eine Maßnahme, die Personen, die ihre Rechte und Freiheiten aus dem Vertrag in Anspruch genommen haben und vollständig in den Aufnahmemitgliedstaat integriert sind, sehr schaden kann. Die Wirkung derartiger Maßnahmen sollte daher gemäß dem Verhältnismäßigkeitsprinzip begrenzt werden, damit der Grad der Integration der Betroffenen, die Dauer des Aufenthalts im Aufnahmemitgliedstaat, ihr Alter, ihr Gesundheitszustand, die familiäre und wirtschaftliche Situation und die Bindungen zum Herkunftsstaat berücksichtigt werden.

(24) Daher sollte der Schutz vor Ausweisung in dem Maße zunehmen, wie die Unionsbürger und ihre Familienangehörigen in den Aufnahmemitgliedstaat stärker integriert sind. Gegen Unionsbürger, die sich viele Jahre im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats aufgehalten haben, insbesondere in Fällen, i...

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