Entscheidungsstichwort (Thema)

Vorabentscheidungsersuchen des Verwaltungsgerichtshofs [Österreich]. Soziale Sicherheit. Verordnung (EWG) Nr. 1408/71. Art. 4 Abs. 1 Buchst. b und g, 10 Abs. 1 und 69. Freizügigkeit. Art. 39 EG und 42 EG. Gesetzliche Pensions- oder Unfallversicherung. Versicherungsleistung wegen geminderter Arbeitsfähigkeit oder wegen Erwerbsunfähigkeit. Vorschuss an arbeitslose Antragsteller. Qualifizierung der Leistung als ‚Leistung bei Arbeitslosigkeit’ oder als ‚Leistung bei Invalidität’. Wohnorterfordernis

 

Leitsatz (amtlich)

1. Soziale Sicherheit der Wandererwerbstätigen – Gemeinschaftsregelung – Sachlicher Geltungsbereich

2. Soziale Sicherheit der Wandererwerbstätigen – Gleichbehandlung

  1. Eine Leistung in Form eines Vorschusses, der Arbeitslosen gewährt wird, die die Zuerkennung einer Versicherungsleistung aus der gesetzlichen Pensions- oder Unfallversicherung wegen geminderter Arbeitsfähigkeit oder wegen Erwerbsunfähigkeit beantragt haben, ist als „Leistung bei Arbeitslosigkeit” im Sinne von Art. 4 Abs. 1 Buchst. g der Verordnung Nr. 1408/71 anzusehen.

    Was zunächst den Sinn und Zweck einer solchen Leistung angeht, so soll sie dem eine Berufsunfähigkeitspension Beantragenden, der beschäftigungslos ist oder über keine Einkünfte verfügt, finanzielle Mittel verschaffen, damit er in Erwartung der endgültigen Entscheidung über seinen Antrag und somit während eines Zeitraums, in dem ein Zustand der Ungewissheit in Bezug auf seine Fähigkeit, in das Erwerbsleben wiedereingegliedert zu werden, besteht, seinen Unterhalt bestreiten kann, sofern im Hinblick auf die Umstände mit der Zuerkennung dieser Pension zu rechnen ist. Diese Leistung, die auch von den bei Arbeitslosigkeit zuständigen Behörden gewährt wird, soll hauptsächlich das aufgrund der Arbeitslosigkeit verlorene Arbeitsentgelt ersetzen und ist somit für den Unterhalt des arbeitslosen Arbeitnehmers bestimmt. Was sodann die Berechnungsgrundlage dieser Leistung betrifft, so wird deren Höhe in gleicher Weise wie die des Arbeitslosengelds festgelegt. Schließlich ist zu den Voraussetzungen für die Gewährung dieser Leistung festzustellen, dass über den Umstand hinaus, dass die für die Leistung geltenden Bestimmungen in der Regelung zur Arbeitslosenversicherung enthalten sind und die Leistung von den bei Arbeitslosigkeit zuständigen Behörden gewährt wird, derjenige, der eine Berufsunfähigkeitspension beantragt hat, die Voraussetzungen für den Anspruch auf Arbeitslosengeld in Bezug auf die Anwartschaft und die Nichterschöpfung der Bezugsdauer erfüllen muss. Unter diesen Umständen bezieht sich eine derartige Leistung ungeachtet dessen, dass sie an einen Antrag auf Berufsunfähigkeitspension gebunden ist, unmittelbar auf das Risiko der Arbeitslosigkeit im Sinne von Art. 4 Abs. 1 Buchst. g der Verordnung Nr. 1408/71.

    (vgl. Randnrn. 23, 25, 29-30, 35-36, Tenor 1)

  2. Art. 39 EG ist dahin auszulegen, dass er es einem Mitgliedstaat untersagt, die Gewährung einer als „Leistung bei Arbeitslosigkeit” im Sinne von Art. 4 Abs. 1 Buchst. g der Verordnung Nr. 1408/71 anzusehenden Leistung in Form eines Vorschusses, der Arbeitslosen gewährt wird, die die Zuerkennung einer Versicherungsleistung aus der gesetzlichen Pensions- oder Unfallversicherung wegen geminderter Arbeitsfähigkeit oder wegen Erwerbsunfähigkeit beantragt haben, von der Bedingung abhängig zu machen, dass die Empfänger ihren Wohnort im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats haben, sofern der Mitgliedstaat nichts dafür beigebracht hat, dass ein solches Erfordernis objektiv gerechtfertigt und verhältnismäßig ist.

    Eine Vorschrift des nationalen Rechts ist nämlich, sofern sie nicht objektiv gerechtfertigt ist und in einem angemessenen Verhältnis zum verfolgten Zweck steht, als mittelbar diskriminierend anzusehen, wenn sie sich ihrem Wesen nach eher auf Wanderarbeitnehmer als auf inländische Arbeitnehmer auswirken kann und folglich die Gefahr besteht, dass sie Wanderarbeitnehmer besonders benachteiligt. Dies trifft auf ein Wohnorterfordernis wie das, von dem die Gewährung der genannten Leistung abhängt, zu, denn es ist für inländische Arbeitnehmer einfacher zu erfüllen als für Arbeitnehmer anderer Mitgliedstaaten, weil vor allem die letztgenannten Arbeitnehmer gerade bei Arbeitslosigkeit oder Invalidität dazu neigen, das Land ihrer ehemaligen Beschäftigung zu verlassen, um in ihr Herkunftsland zurückzukehren.

    (vgl. Randnrn. 54-55, 64, Tenor 2)

 

Normenkette

EWGV 1408/71 Art. 4 Abs. 1 Buchst. g; EG Art. 39

 

Beteiligte

Petersen J

Jörn Petersen

Landesgeschaeftsstelle des Arbeitsmarktservice Niederösterreich

 

Tenor

1. Eine Leistung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende ist als „Leistung bei Arbeitslosigkeit” im Sinne von Art. 4 Abs. 1 Buchst. g der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in der durch die Verordnung (EG) Nr. 118/97 des Ra...

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Deutsches Anwalt Office Premium. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge