Entscheidungsstichwort (Thema)

Nichtigkeitsklage. Klage nach Artikel 33 Absatz 1 EGKS-Vertrag. Klagegründe. Offensichtliche Verkennung der Bestimmungen des Vertrages oder irgendeiner bei seiner Durchführung anzuwendenden Rechtsnorm durch die Kommission. Begriff (EGKS-Vertrag, Artikel 33 Absatz 1). EGKS. Beihilfen für die Eisen- und Stahlindustrie. Kriterium des privaten Kapitalgebers. Rentabilitätsaussichten (EGKS-Vertrag, Artikel 4 Buchst. c). Verbot. Genehmigung durch die Kommission (EGKS-Vertrag, Artikel 4 Buchst. c und 95). Handlungen der Organe. Begründungspflicht. Umfang. EGKS-Entscheidung (EGKS-Vertrag, Artikel 5, 15 und 33 Absatz 2). Gemeinschaftsrecht. Grundsätze. Verteidigungsrechte. Wahrung im Rahmen von Verwaltungsverfahren. Keine Verpflichtung, den Empfänger öffentlicher Mittel zur rechtlichen Beurteilung durch die Kommission anzuhören (Fünfter Stahlbeihilfenkodex, Artikel 6 Absatz 4)

 

Leitsatz (amtlich)

1. Für die Anwendung des Artikels 33 Absatz 1 Satz 2 EGKS-Vertrag, wonach der Gerichtshof im Rahmen von Rechtsstreitigkeiten über die Nichtigerklärung von Entscheidungen und Empfehlungen der Kommission seine Nachprüfung nicht auf die Würdigung der aus den wirtschaftlichen Tatsachen oder Umständen sich ergebenden Gesamtlage erstrecken darf, die zu den angefochtenen Entscheidungen oder Empfehlungen geführt hat, es sei denn, daß der Kommission der Vorwurf gemacht wird, sie habe ihr Ermessen mißbraucht oder die Bestimmungen des Vertrages oder irgendeiner bei seiner Durchführung anzuwendenden Rechtsnorm offensichtlich verkannt, ist der Begriff „offensichtlich” so auszulegen, daß die Verkennung der Bestimmungen des Vertrages ein gewisses Gewicht haben muß; sie muß nämlich in einer Beurteilung der der Entscheidung zugrunde gelegten wirtschaftlichen Lage bestehen, die, an den Bestimmungen des Vertrages gemessen, offensichtlich irrig ist.

2. Die in den Vorschriften des EG-Vertrags über staatliche Beihilfen enthaltenen Begriffe, wie sie in der Gemeinschaftsrechtsprechung näher bestimmt worden sind, sind für die Anwendung der entsprechenden Vorschriften des EGKS-Vertrags relevant, soweit sie nicht mit diesem unvereinbar sind. Daher ist es insoweit gerechtfertigt, auf die Rechtsprechung zu den unter den EG-Vertrag fallenden staatlichen Beihilfen Bezug zu nehmen, um die Rechtmässigkeit von Entscheidungen zu beurteilen, die von Artikel 4 Buchstabe c EGKS-Vertrag erfasste Beihilfen betreffen.

Um festzustellen, ob eine Übertragung öffentlicher Mittel auf ein Stahlunternehmen eine staatliche Beihilfe im Sinne von Artikel 4 Buchstabe c EGKS-Vertrag darstellt, ist somit zu prüfen, ob ein privater Investor von vergleichbarer Grösse wie die Einrichtungen des öffentlichen Sektors in vergleichbarer Lage eine Kapitalhilfe dieses Umfangs hätte gewähren können.

Der private Investor, dessen Verhalten mit demjenigen eines wirtschaftspolitische Ziele verfolgenden öffentlichen Investors verglichen werden muß, braucht nicht notwendigerweise ein gewöhnlicher Investor zu sein, der Kapital zum Zweck seiner mehr oder weniger kurzfristigen Rentabilisierung anlegt, es muß sich aber zumindest um eine private Holding oder eine private Unternehmensgruppe handeln, die eine globale oder sektorale Strukturpolitik verfolgt und sich von längerfristigen Rentabilitätsaussichten leiten lässt.

Eine Muttergesellschaft kann zwar während eines beschränkten Zeitraums auch Verluste einer ihrer Tochtergesellschaften übernehmen, um dieser die Einstellung ihrer Tätigkeit unter möglichst günstigen Bedingungen zu ermöglichen, und dies nicht nur mit mittelbaren materiellen Gewinnen, sondern auch mit anderen Erwägungen, etwa dem Bemühen um Imagepflege des Konzerns oder um Neuorientierung seiner Tätigkeit begründen; ein privater Investor kann es sich jedoch vernünftigerweise nicht erlauben, nach Jahren ununterbrochener Verluste eine Kapitalzuführung vorzunehmen, die sich wirtschaftlich nicht nur als kostspieliger als eine Liquidation der Aktiva erweist, sondern auch noch im Zusammenhang mit dem Verkauf des Unternehmens steht, was ihm – selbst längerfristig – jede Gewinnaussicht nimmt.

Da zwischen den Verpflichtungen zu unterscheiden ist, die der Staat als Eigentümer der Anteile einer Gesellschaft zu übernehmen hat, und den Verpflichtungen, die ihm als Träger der öffentlichen Gewalt obliegen, müssen bei der Anwendung des Kriteriums des privaten Investors ausserdem alle sozialen oder regionalpolitischen Überlegungen oder Erwägungen einer sektorbezogenen Politik unberücksichtigt bleiben.

3. Aus dem Wortlaut von Artikel 4 Buchstabe c EGKS-Vertrag ergibt sich nicht, daß Beihilfen, die zu einer geringfügigen Wettbewerbsverzerrung führen, nicht unter das angeordnete Verbot fallen. Im übrigen verlangt diese Vorschrift des EGKS-Vertrags anders als Artikel 92 Absatz 1 EG-Vertrag von der Kommission nicht, festzustellen, daß die fragliche Beihilfe den Wettbewerb verfälscht oder zu verfälschen droht. Das Verbot des Artikels 4 Buchstabe c wird nur dadurch gemildert, daß die Ko...

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