Die Wahrung des Kindeswohls obliegt in erster Linie den Eltern eines Kindes. Die staatliche Gemeinschaft übt insoweit jedoch ein Wächteramt aus. Dieses Wächteramt ist darauf gerichtet, die Eltern bei der Wahrung der Belange des Kindes zu unterstützen. Schlagen jedoch Hilfeversuche fehl, kann auch der – teilweise oder vollständige – Entzug der elterlichen Sorge sowie eine Trennung der Kinder von den Eltern die Folge sein. Es ist daher wesentlich, die Voraussetzungen zu kennen, unter denen die staatliche Gemeinschaft gezwungen sein könnte, in die elterliche Sorge einzugreifen.

11.1 Vorbemerkung

Der Begriff "Wohl des Kindes" ist von Gerichten zu allen Zeiten gefüllt worden mit einem Inhalt, der nicht unabhängig von der jeweiligen gesellschaftspolitischen Situation und nicht unabhängig von gesellschaftlichen Auffassungen gesehen werden kann.

Deutliches Zeugnis davon geben Entscheidungen deutscher Gerichte im Laufe der Jahrzehnte auf der Grundlage des bis vor kurzer Zeit nahezu unverändert gebliebenen Wortlautes des § 1666 BGB.

1935 erklärte beispielsweise das Landgericht Torgau:[1]

  • "Eine deutsche Mutter, die durch ihren Verkehr mit einem Juden zu einer Zeit, in der eine aufklärende Propaganda ihr das Verbrecherische ihrer Handlungsweise zum Bewusstsein hat bringen müssen, eine schamlose Gesinnung an den Tag gelegt hat, ist nicht würdig und nicht fähig, deutsche Kinder zu deutschen Menschen zu erziehen."

Man muss aber nicht einmal Beispiele aus der Zeit der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts heranziehen: Während beispielsweise noch 1953 ein Elternverhalten vom BGH als lediglich drastisch qualifiziert wurde, beidem die 16-jährige Tochter in der Wohnung festgehalten, festgebunden und geschlagen wurde, ihre Haare kurz geschoren wurden, um ihre "sittliche Verkommenheit zu bekämpfen"[2], entzog das OLG Karlsruhe 1974 einem Vater, der seine 14-jährige Tochter heftig schlug und sie ohrfeigte, das Personensorgerecht, weil "Schläge in diesem Alter kein geeignetes Erziehungsmittel" seien.[3]

[1] JW 1935, 356.
[2] BGH, NJW 1953, 1440.
[3] OLG Karlsruhe, FamRZ 1974, 538; heute ist allerdings – Gott sei Dank – allgemein anerkannt, dass Schläge überhaupt kein geeignetes Erziehungsmittel sind, vgl. unten Zf. 3.

11.2 Grundinformationen

§ 1666 BGB ist und bleibt die zentrale Norm, über die das sog. staatliche Wächteramt zur Sicherung des Kindeswohls realisiert wird.[1]

Sie begrenzt die grundsätzlich umfassende elterliche Sorge. Schon vor Änderung des § 1666 BGB durch die Neuregelung des Rechts der elterlichen Sorge 1980 hatte das Bundesverfassungsgericht festgehalten: "Das Vormundschaftsgericht nimmt in all diesen Fällen das "Wächteramt" (Art. 6 Abs. 2 GG) der staatlichen Gemeinschaft wahr, dessen verfassungsrechtlicher Sinn es ist, objektive Verletzungen des Wohls des Kindes zu verhüten, unabhängig von einem Verschulden der Eltern".[2]

Die 1980 vorgenommene Neufassung des § 1666 BGB, die seitdem verschuldensunabhängig formuliert ist, wurde vom Bundesverfassungsgericht verfassungsrechtlich akzeptiert.[3] Denn die verfassungsrechtliche Gewährleistung des Elternrechts dient in erster Linie dem Schutz des Kindes.

Damit ist das Kindeswohl grundsätzlich der entscheidende Maßstab für Entscheidungen, die im Bereich des Kindesrechts zu treffen sind, denn das Elternrecht ist nicht um seiner selbst gewährt.[4]

[2] BVerfGE 10, 84.
[3] BVerfGE 60, 79 ff.

11.2.1 Eingriffsvoraussetzung: Die Gefährdung des Kindeswohls

Gem. § 1666 Abs. 1 BGB hat das Familiengericht die zur Abwendung der Gefahr erforderlichen Maßnahmen zu treffen, wenn das körperliche, geistige oder seelische Wohl des Kindes oder sein Vermögen gefährdet wird und die Eltern nicht gewillt oder in der Lage sind, die Gefahr abzuwenden.[1] Dabei sind Maßnahmen, mit denen eine Trennung der Kinder von der elterlichen Familie verbunden ist, nur zulässig, wenn der Gefahr nicht auf andere Weise, auch nicht durch öffentliche Hilfen, begegnet werden kann (§ 1666a BGB).[2]

Bei der Auslegung des Begriffs Kindeswohl ist zu berücksichtigen, dass gem. Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG dem Erziehungsrecht der Eltern Vorrang zukommt und der Staat in dieses Erziehungsrecht nur nach Maßgabe des Art. 6 Abs. 2 S 2 GG bei strikter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit eingreifen darf.[3] Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts dient das den Eltern gem. Art. 6 Abs. 2 GG gewährleistete Grundrecht auf Pflege und Erziehung ihres Kindes in erster Linie dem Kindeswohl, das zugleich oberste Richtschnur für die Ausübung der Elternverantwortung ist.[4]

Dabei gehört es nicht zum staatlichen Wächteramt gem. Art. 6 II GG, für eine den Fähigkeiten des jeweiligen Kindes bestmögliche Förderung[5] zu sorgen; vielmehr gehören die Eltern und deren gesellschaftliche und wirtschaftliche Verhältnisse zum Schicksal und Lebensrisiko des Kindes.[6]

Im Rahmen der §§ 1666, 1666a BGB ist stets zu beachten, dass kein Kind Anspruch auf "Idealeltern" und optimale Förderung und Erziehung hat und sich staatliche Eingriffe auf die Abwehr von Gefahren beschränken. Keinesfalls...

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