Entscheidungsstichwort (Thema)

Kindergeld für Ausländer mit Aufenthaltsbefugnis

 

Leitsatz (redaktionell)

Die Nichtgewährung von Kindergeld in den Jahren 1994 und 1995 an Ausländer, die nicht über eine Aufenthaltserlaubnis oder Aufenthaltsberechtigung, sondern nur über eine Aufenthaltsbefugnis verfügten, verstößt gegen Art. 14 i. V. mit Art. 8 der Konvention für Menschenrechte. Der Gerichtshof erkennt wie das BVerfG in den Musterverfahren (Beschlüsse vom 6. Juli 2004 1 BvL 4/97, 1 BvL 5/97, 1 BvL 6/97) keine hinreichenden Gründe zur unterschiedlichen Behandlung von Ausländern bei dem Kindergeldbezug in Abhängigkeit davon, ob sie über eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung verfügten oder nicht.

 

Normenkette

GG Art. 3 Abs. 1, Art. 6 Abs. 1; EStG § 62 Abs. 2; BKGG § 1 Abs. 3

 

Tenor

1. Der Rechtssache lag eine Individualbeschwerde (Nr. 59140/00) gegen die Bundesrepublik Deutschland zugrunde, die zwei polnische Staatsangehörige, Herr Zbigniew und Frau Halina Okpisz („die Beschwerdeführer”), am 15. Februar 2000 nach Artikel 34 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten („die Konvention”) beim Gerichtshof eingereicht hatten.

2. Die deutsche Regierung („die Regierung”) war vertreten durch ihren Verfahrensbevollmächtigten, Herrn Ministerialdirigent K. Stoltenberg, und später Frau Ministerialrätin A. Wittling-Vogel, vom Bundesministerium der Justiz.

3. Die Beschwerdeführer machten geltend, dass die Versagung des Kindergelds seit Januar 1994 einer Diskriminierung gleichkomme.

4. Die Beschwerde wurde der Vierten Sektion des Gerichtshofs zugewiesen (Artikel 52 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs). In dieser Sektion wurde die Kammer, welche die Rechtssache prüfen sollte (Artikel 27 Abs. 1 der Konvention), gemäß Artikel 26 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs gebildet.

5. Mit Entscheidung vom 17. Juni 2003 erklärte der Gerichtshof die Beschwerde für zulässig.

6. Am 1. November 2004 änderte der Gerichtshof die Zusammensetzung seiner Sektionen (Artikel 25 Abs. 1 der Verfahrensordnung). Diese Rechtssache wurde der neu gebildeten Vierten Sektion zugewiesen (Artikel 52 Abs. 1 der Verfahrensordnung).

7. Die Beschwerdeführer und die Regierung gaben jeweils Stellungnahmen zur Begründetheit ab (Artikel 59 Abs. 1 der Verfahrensordnung).

 

Tatbestand

SACHVERHALT

I. DER HINTERGRUND DER RECHTSSACHE

8.

Die 1946 bzw. 1957 geborenen Beschwerdeführer sind in Dortmund, Deutschland, wohnhaft.

9.

Die miteinander verheirateten Beschwerdeführer reisten 1985 mit ihrer 1979 geborenen Tochter nach Deutschland ein. Der 1970 geborene Sohn folgte 1986.

10.

Die Klage der Beschwerdeführer auf Anerkennung der Vertriebeneneigenschaft wurde 1987 abgewiesen. Am 5. November 1992 lehnte das Oberverwaltungsgericht Münster den Antrag der Beschwerdeführer auf Wiederaufnahme des Verfahrens ab. Am selben Tag wurden den Beschwerdeführern Aufenthaltsbefugnisse erteilt, die regelmäßig verlängert wurden.

11.

Am 27. Dezember 1993 setzte das Arbeitsamt Dortmund den Beschwerdeführer, der seit 1986 Kindergeld erhalten hatte, davon in Kenntnis, dass ab dem 1. Januar 1994 aufgrund einer Gesetzesänderung kein Kindergeld mehr gezahlt werde. Das Amt brachte vor, dass nach § 1 Abs. 3 des Bundeskindergeldgesetzes (siehe „Einschlägiges innerstaatliches Recht”, unten) in der ab dem 1. Januar 1994 gültigen Fassung ein Ausländer nur dann Anspruch auf Kindergeld habe, wenn er im Besitz einer Aufenthaltsberechtigung oder Aufenthaltserlaubnis sei. Das Amt führte an, dass diese Bedingung im Fall der Beschwerdeführer nicht erfüllt sei.

12.

Am 25. März 1994 wies die Bundesanstalt für Arbeit den Widerspruch des Beschwerdeführers zurück.

13.

Der Beschwerdeführer, der anwaltlichen Beistand hatte, erhob beim Sozialgericht Dortmund Klage auf Bewilligung von Kindergeld ab Januar 1994. Er führte aus, dass er und seine Familie seit 1985 in Deutschland lebten und Steuern und Sozialbeiträge gezahlt hätten. Er habe daher weiterhin Anspruch auf Kindergeld.

14.

Am 27. März 1995 wies das Sozialgericht die Klage des ersten Beschwerdeführers ab. Es bestätigte, dass Ausländer nur Anspruch auf Kindergeld hätten, wenn sie im Besitz einer Aufenthaltsberechtigung oder Aufenthaltserlaubnis seien. Nach der gesetzlichen Neuregelung solle Ausländern nur Kindergeld gewährt werden, wenn sie dauerhaft in Deutschland lebten; bei Ausländern, die nur im Besitz einer Aufenthaltsbefugnis seien, sei davon aber nicht auszugehen. Das Gericht wies außerdem darauf hin, dass diese Unterscheidung keinen Verstoß gegen das Grundgesetz darstelle, wie das Bundessozialgericht seit 1992 in mehreren Entscheidungen festgestellt habe. Der in Artikel 6 des Grundgesetzes verankerte besondere Schutz der Familie hindere den Staat nicht daran, die Zahlung von Kindergeld von der Art des Aufenthaltstitels abhängig zu machen.

15.

Am 14. Juni 1995 legte der erste Beschwerdeführer mit anwaltlichem Beistand beim Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen Berufung ein.

16.

Am 2. Mai 1997 setzte das Landessozialgericht den Beschwerdeführe...

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