a) Grundsätzliches

 

Rz. 359

Festzuhalten ist, dass eine allgemeingültige Regel zur Bestimmung der Höhe der fiktiven ("latenten) Steuerbelastungen derzeit nicht auszumachen ist; hier besteht in der Praxis ein erhebliches Streitpotenzial.[927]"

 

Rz. 360

Ein Weg, das Problem zu lösen, könnte darin bestehen, auf die steuerlichen Verhältnisse des Erblassers abzustellen. Dies scheint auch das OLG Oldenburg in der bereits angesprochenen Entscheidung annehmen zu wollen. Und auch die Entscheidung des BGH zur Behandlung von kapitalbildenden Lebensversicherungen im Rahmen von Pflichtteilsergänzungsansprüchen[928] könnte in diese Richtung deuten.

Allerdings bleibt festzuhalten, dass dieser Ansatz dogmatisch nicht zu rechtfertigen ist, da er im krassen Widerspruch zum Stichtagsprinzip steht. Außerdem darf bei all dem auch nicht übersehen werden, dass das Abstellen auf den (einzigen) Erblasser die fiktive Steuerbelastung auf eine Person konzentriert, was sich tendenziell zum Nachteil des Pflichtteilsberechtigten auswirkt. Dies spielte im oben angesprochenen Fall des OLG Oldenburg keine Rolle, weil es ohnehin um eine Belastung mit der pauschalen Abgeltungssteuer ging. Es erscheint jedoch vergleichsweise unwahrscheinlich, dass die Rechtsprechung einen solchen Ansatz goutieren könnte, wenn der Erblasser tatsächlich von mehreren Erben beerbt wird und sich die Verteilung eines etwaigen steuerpflichtigen Veräußerungsgewinns auf mehrere Steuerpflichtige im Ergebnis steuermindernd auswirkt.

Mithin ist für die Bestimmung der fiktiven Steuer, dogmatisch betrachtet, auf die Person des Erben (des tatsächlichen oder des idealen) abzustellen (vgl. hierzu Rdn 64 ff.).

[927] Kerscher/Riedel/Lenz, Pflichtteilsrecht, § 7 Rn 37.

b) Steuerliche Eigenschaften des "idealen" Erben

aa) Konkreter Erbe vs. idealer Erbe

 

Rz. 361

Das Thema der fiktiven Einkommensteuerbelastungen spielt nicht nur pflichtteilsrechtlich eine Rolle; viel prominenter ist es in der jüngeren Vergangenheit im Bereich des Zugewinnausgleichs vom BGH diskutiert worden.

Auch hier legt die Rechtsprechung zu Bewertungszwecken ein Veräußerungsszenario zugrunde, so dass veräußerungsbedingte Steuerbelastungen zu berücksichtigen sind.[929] Der wesentliche Unterschied der Situation des lebzeitigen Zugewinnausgleichs gegenüber der Pflichtteilsgeltendmachung besteht jedoch darin, dass für die Steuerberechnung beim Zugewinn auf die konkreten steuerlichen Verhältnisse der Eheleute abgestellt werden kann bzw. muss.

Im Pflichtteilsrecht ist das leider nicht so einfach. Denn hier kommt es prinzipiell nicht auf die tatsächlichen individuellen Verhältnisse der Beteiligten an, sondern vielmehr darauf, wie sich die Besteuerung des Nachlassvermögens in der Hand von jedermann, also des idealen[930] Erben, darstellen würde.[931]

[929] BGH NJW 2011, 2572; BGH FamRZ 2011, 622.
[930] Nicht des konkreten, a.A. Krause/Opris, ZEV 2019, 190, 191.
[931] A.A. Schmid, ZErb 2015, 133, 137, der auf den konkreten Erben abstellen möchte, um eine wirtschaftliche Überforderung des Pflichtteilsschuldners zu vermeiden.

bb) Steuerliches Profil des idealen Erben

(1) Grundsätzliches

 

Rz. 362

Wie die steuerlichen Verhältnisse des idealen Erben zu bestimmen sind, hat die Rechtsprechung bislang nicht einheitlich entschieden. Klare Vorgaben hierzu existieren (noch) nicht.[932]

Insofern stellt sich zunächst die Frage nach dem anzuwendenden Steuersatz – aber auch nach anderen persönlichen (Besteuerungs-)Merkmalen.

Im Bereich des Güterrechts (Zugewinnausgleich) wird vorgeschlagen, jedenfalls bei Einzelunternehmen und Personengesellschaften zur Vermeidung großer praktischer Probleme, auf einen standardisierten Steuersatz i.H.v. 35 % zurückzugreifen.[933]

Derartige Pauschalierungen erscheinen für Körperschaften plausibel, da bei deren Besteuerung ein einheitlicher Steuersatz die Regel ist.[934] Für natürliche Personen steht dieser allerdings im Widerspruch zu dem progressiven, die individuelle Leistungsfähigkeit des Steuerpflichtigen berücksichtigenden Steuersatz. Mit steigendem Einkommen steigt auch der Steuersatz. Eine einheitliche flat-tax-Besteuerung hat sich in der Bundesrepublik (abgesehen von der Abgeltungssteuer nach § 32d EStG) gerade nicht durchgesetzt und würde im Zuge der Pflichtteilsberechnung – dogmatisch – zu unrichtigen Ergebnissen führen.[935]

Dessen ungeachtet könnten Praktikabilitätserwägungen u.U. für eine solche Herangehensweise sprechen. Das gilt insbesondere auch für Einkünfte nach § 20 EStG, die der Abgeltungssteuer unterliegen.

 

Rz. 363

Eine klare Linie für die Lösung des anstehenden Problems ist bislang nicht erkennbar. Festzuhalten ist an dieser Stelle jedenfalls, dass jegliche Pauschalierung mit einer gewissen Willkür verbunden wäre.

Genau diese Willkür verträgt sich aber nicht mit dem Grundgedanken des Pflichtteilsrechts. Denn vor der Willkür des Erblassers, seine nächsten Angehörigen enterben zu können, soll der Pflichtteilsberechtigte geschützt werden. Es ergäbe wenig Sinn, ihn nun im Rahmen der im Pflichtteilsrecht verkörperten Korrekturbemühungen einer anderen Art von Willkür auszusetzen.

[932] Vgl. aber OLG Hamm v. 10.4.2014 – 10 U 35/13, BeckRS 2014, 11...

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