Entscheidungsstichwort (Thema)

Einstufige Degradierung unter Verkürzung der Wiederbeförderungsfrist wegen fahrlässiger Gefährdung des Straßenverkehrs in Tateinheit mit dreifacher fahrlässiger Körperverletzung

 

Leitsatz (amtlich)

Begeht ein Soldat außerdienstlich eine fahrlässige Straßenverkehrsgefährdung in Tateinheit mit fahrlässiger Körperverletzung, bildet ein Beförderungsverbot den Ausgangspunkt der Zumessungserwägungen.

 

Verfahrensgang

Truppendienstgericht Nord (Urteil vom 29.08.2022; Aktenzeichen N 5 VL 37/19)

 

Tenor

Die Berufung des Soldaten gegen das Urteil der 5. Kammer des Truppendienstgerichts Nord vom 29. August 2022 wird zurückgewiesen.

Die Kosten des Berufungsverfahrens werden dem Soldaten auferlegt, der auch die ihm darin erwachsenen notwendigen Auslagen zu tragen hat.

 

Tatbestand

Rz. 1

Das Verfahren betrifft eine außerdienstliche fahrlässige Gefährdung des Straßenverkehrs in Tateinheit mit dreifacher fahrlässiger Körperverletzung.

Rz. 2

1. Der 19... geborene, ledige und kinderlose Soldat wurde 2013 Zeitsoldat. 2014 wurde er zum Bootsmann, 2016 zum Oberbootsmann befördert. Nach verschiedenen Vorverwendungen wurde er zu Februar 2018 zum... in... versetzt. 2022 schloss er eine ZAW-Maßnahme als geprüfter Wirtschaftsfachwirt ab. Seine Dienstzeit endet mit Ablauf Juni 2025.

Rz. 3

2. Der strafrechtlich und disziplinarisch nicht anderweitig vorbelastete Soldat wurde im sachgleichen Strafverfahren mit Urteil des Amtsgerichts Cottbus vom 9. Februar 2016 wegen fahrlässiger Gefährdung des Straßenverkehrs (§ 315c Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a und Abs. 3 Nr. 2 StGB) in Tateinheit mit fahrlässiger Körperverletzung (§ 229 StGB) zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und vier Monaten auf Bewährung verurteilt. Auf seine auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkte Berufung wurde das Strafmaß vom Landgericht Cottbus unter Feststellung, dass der Straftatbestand des § 315c StGB in mehrfacher Hinsicht erfüllt und dabei in drei Fällen eine fahrlässige Körperverletzung begangen worden sei, mit rechtskräftigem Urteil vom 17. Januar 2018 auf elf Monate und zwei Wochen auf Bewährung verringert. Die Strafe wurde zum 18. März 2020 erlassen.

Rz. 4

3. Das Truppendienstgericht hat den Soldaten mit Urteil vom 29. August 2022 in den Dienstgrad eines Bootsmanns herabgesetzt und die Frist zur Wiederbeförderung auf zwei Jahre verkürzt. Mit den rechtskräftigen Strafurteilen sei bindend festgestellt worden:

"Am 04. April 2015 gegen Mitternacht begab sich der Angeklagte mit Freunden nach Polen, um dort zu feiern. Gegen 3:00 Uhr des 04. April 2015 kehrte man aus Polen zurück und suchte eine... Diskothek auf. Man feierte und der Angeklagte nahm Alkohol in unbekannten Maßen zu sich. Um 8:20 Uhr befand sich der Angeklagte - mittlerweile allein im Fahrzeug - mit einem PKW..., amtliches Kennzeichen... auf der Heimfahrt, genauer gesagt auf der Bundesstraße... aus Richtung... kommend in Fahrtrichtung... Trotz feuchter und stellenweise überfrorener Fahrbahn hielt der Angeklagte eine Geschwindigkeit von etwa 100 km/h ein. Mit dieser Geschwindigkeit überholte er drei PKW, unter anderem denjenigen des Zeugen A., in einem Zug. Er beendete das Überholmanöver, indem er wieder rechts einscherte. Kurz darauf zog der Angeklagte ohne erkennbaren Anlass wieder nach links herüber, bis er sich mit der gesamten Fahrzeugbreite auf der Gegenfahrbahn befand. In Höhe des Kilometer 1,244 (Gemarkung.../...) kollidierte der Angeklagte frontal mit dem auf der Gegenfahrbahn fahrenden PKW der Zeugin B.

Die dem Angeklagten um 10:10 Uhr entnommene Blutprobe enthielt eine mittlere Alkoholkonzentration von 0,54 Promille.

Der im PKW der Zeugin B. mitfahrende, 15 Monate alte C. erlitt durch die Kollision eine inkomplette Querschnittslähmung, eine Verletzung des zervikalen Rückenmarks, eine Fraktur des DENS AXIS und eine respiratorische Globalinsuffizienz. Die medizinische Behandlung dauert weiterhin an. Eine dauerhafte Querschnittslähmung kann nicht ausgeschlossen werden. Bis heute und wohl auch in der Zukunft muss der C. künstlich beatmet und über eine Bauchsonde künstlich ernährt werden. Seine Lunge muss abgesaugt werden. Schon einige Male ist sein Herz kurzfristig stehen geblieben. Er ist 24 Stunden am Tag pflegebedürftig.

Die Krankenkasse hat der Mutter des Kindes, der Zeugin D., eine Rund-um-die-Uhr-Pflege gewährt, wobei die Zeugin jedoch sechs Stunden pro Tag mitarbeiten muss. Ob und wann C. wieder selbstständig atmen, essen und laufen kann, ist nicht absehbar. In seiner Entwicklung wurde C. durch den Verkehrsunfall vom 04.04.2015 erheblich zurückgeworfen. So konnte er vor dem Unfallereignis bereits sprechen, hat seine Sprache jedoch unfallbedingt verlernt. Erst seit kurzem beginnt er wieder damit zu sprechen. Da er auf einen Rollstuhl angewiesen ist, ist naturgemäß auch seine übrige Entwicklung retardiert bzw. stark erschwert.

Die Zeugin B. erlitt durch die Kollision ein Polytrauma des Schweregrades I mit einer Fraktur des Querfortsatzes, eine Rippenserienfraktur, ein stumpfes Bauchtrauma sowie einen mehrfragmentären Fersenbeinbruch. Da sich der Fersenbeinbruch entzündete, mussten der Zeugin B. Teile aus dem Arm genommen werden, um diese in die Fersenwunde einsetzen zu können. Bis heute schmerzen ihr deshalb Fuß und Arm. Die Zeugin B. befand sich über vier Monate in stationärer Behandlung. Hieran schlossen sich vier Wochen Rehabilitation an. Seit Anfang Februar 2016 arbeitet sie wieder zwei Stunden täglich.

Die Zeugin D. erlitt durch die Kollision ein stumpfes Bauchtrauma, einen Riss in der Milz, eine Zeigefingerfraktur sowie oberflächliche Hautabschürfungen am Becken. Sie musste fünf Tage lang auf der Intensivstation, dann noch zwei Wochen auf einer normalen Station im Krankenhaus behandelt werden. In der Folge war sie noch etwa zwei bis drei Wochen krankgeschrieben.

Am PKW der Zeugin B. entstand wirtschaftlicher Totalschaden."

Rz. 5

Darüber hinaus habe das Landgericht bindend festgestellt:

"Der jetzt 4 Jahre alte Nebenkläger zu 1) wird infolge des vom Angeklagten verursachten Unfalls voraussichtlich sein Leben lang ein Schwerstpflegefall bleiben. Es ist nicht abzusehen, ob die noch immer bestehende Rund-um-die-Uhr-Pflege irgendwann eingeschränkt werden kann.

Die Nebenklägerin zu 2) und Mutter des Nebenklägers zu 1) ist infolge des vom Angeklagten verursachten Unfalls weitgehend gehindert, berufstätig zu sein. Denn da sie trotz der ihr gewährten Rund-um-die-Uhr-Pflege selber sechs Stunden pro Tag bei der Pflege ihres schwerstbehinderten Sohnes mitarbeiten muss, bleibt so gut wie keine Zeit für eine eigene Berufstätigkeit.

Die jetzt über 50 Jahre alte Nebenklägerin zu 3) B. hat infolge des vom Angeklagten verursachten Unfalls ihren Beruf verloren und ist seit längerer Zeit arbeitslos. Denn sie hat so schwere Verletzungen erlitten, dass sie ihren stehenden Beruf nicht mehr ausüben kann.

Der Angeklagte wurde durch den Unfall selber so schwer verletzt, dass er sich im Frühsommer 2017 noch einmal einer großen Operation am Bauch mit fünf Wochen Reha-Anschlussbehandlung unterziehen musste.

Auch das Fahrzeug des Angeklagten erlitt Totalschaden.

Der Angeklagte hat sich in der Berufungshauptverhandlung bei den 3 Geschädigten entschuldigt. Außerdem hat sich der Angeklagte im Rahmen eines vollstreckbaren gerichtlichen Vergleichs verpflichtet, an das durch den Unfall vom 4. April 2015 geschädigte Kind C., geb. am 19.1.2014, einen Schmerzensgeldbetrag in Höhe von 20.000 € zu zahlen, zahlbar in monatlichen Raten von je 200 €."

Rz. 6

Ergänzend habe die Truppendienstkammer festgestellt, dass C. 2018 verstorben sei, wobei die Hintergründe nicht hätten geklärt werden können. Die Zeugin B. leide körperlich noch an den Unfallfolgen und könne ihren Beruf nicht mehr ausüben. Beim Soldaten bestünden inzwischen nur noch leichte unfallbedingte dienstliche Einschränkungen.

Rz. 7

Der Soldat habe ein Dienstvergehen begangen. Er habe durch die fahrlässige Straßenverkehrsgefährdung nach § 315c Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a und Abs. 3 Nr. 2 StGB und die dreifache fahrlässige Körperverletzung gemäß § 229 StGB fahrlässig seine außerdienstliche Wohlverhaltenspflicht (§ 17 Abs. 2 Satz 2 SG a. F.) verletzt.

Rz. 8

Bei der Eigenart und Schwere des Dienstvergehens sei erschwerend zu berücksichtigen, dass die straßenverkehrsgefährdende Handlung von Dauerhaftigkeit geprägt sei, weil sie sich über mehrere Kilometer und längere Zeit erstreckt habe. Dabei habe die Sonne geblendet und die Straßenverhältnisse seien wegen Feuchtigkeit und Glätte schlecht gewesen. Zudem habe der Soldat gewusst, Alkohol getrunken zu haben und in der Nacht lange unterwegs gewesen zu sein. Dennoch habe er kurz vor dem Unfall drei Fahrzeuge in einem Zug überholt. Dies zeige, dass er trotz Wissens um die genannten Umstände nicht einmal bereit gewesen sei, umsichtig und vorsichtig zu fahren. Dabei habe er in einem Vorgesetztenverhältnis gestanden. Die Auswirkungen des Dienstvergehens seien verheerend. Die Beweggründe des Soldaten seien zum einen in einem ausgiebigen "Freizeitbedürfnis" zu finden. Zum anderen habe er am Morgen schnell nach Hause kommen wollen, was ihm wichtiger gewesen sei als die Beachtung minimaler Sorgfaltspflichten.

Rz. 9

Ausgangspunkt der Zumessungserwägungen sei bei einer vorsätzlichen oder grob fahrlässigen außerdienstlichen Straßenverkehrsgefährdung, durch die fahrlässig der Tod eines Menschen verursacht werde, eine Dienstgradherabsetzung. Hier könne wegen der vornehmlich durch die Auswirkungen geprägten Schwere der Pflichtverletzungen nichts Anderes gelten, zumal der Soldat Vorgesetzter gewesen sei.

Rz. 10

Auf der zweiten Stufe sei zu Lasten des Soldaten zu berücksichtigen, dass sein Verhalten einen deutlich überdurchschnittlichen Handlungsunwert aufweise. Denn er habe über einen längeren Zeitraum und über eine längere Strecke bewusst fahrlässig und rücksichtslos andere Verkehrsteilnehmer gefährdet. Er habe in besonderer Weise gegen Verkehrsvorschriften und alle Regeln praktischer Vernunft verstoßen, indem er, was er gewusst habe, trotz Alkoholisierung, möglicher Übernächtigung und schwieriger Witterungsverhältnisse völlig unangepasst gefahren sei. Die damit verbundenen Gefahren hätten sich ihm aufdrängen müssen. Danach komme an sich eine Dienstgradherabsetzung bis in einen Mannschaftsdienstgrad in Betracht.

Rz. 11

Für den Soldaten sprächen aber seine ehrliche Reue und seine freiwillige Bereitschaft, an das jüngste Opfer 20 000 € zu zahlen. Zudem habe er sich bei den Opfern entschuldigt und sich nachbewährt.

Rz. 12

Die mildernden Umstände führten angesichts der besonderen Schwere der Tat dazu, dass nicht zur Höchstmaßnahme überzugehen sei. Bei einer Gesamtwürdigung sei an sich eine zweistufige Dienstgradherabsetzung verwirkt. Wegen einer fast zweijährigen Verfahrensüberlänge sei aber nur eine einstufige Degradierung angezeigt. Aufgrund der Gesamtumstände und des Willens des Soldaten, in Zukunft seinen Dienst vorbildlich zu verrichten, solle ihm ermöglicht werden, in seiner Restdienstzeit wieder zum Oberbootsmann befördert zu werden. Daher sei die Wiederbeförderungsfrist auf zwei Jahre zu verkürzen.

Rz. 13

4. Mit seiner maßnahmebeschränkten Berufung begehrt der Soldat eine Verfahrenseinstellung, hilfsweise eine mildere Disziplinarmaßnahme.

Rz. 14

Das Truppendienstgericht hätte bei der Maßnahmebemessung keine Überlegungen zum Tathergang mehr anstellen dürfen. Es habe die bindenden strafgerichtlichen Feststellungen durch die subjektiv eingefärbte Darstellung "..., wo man dem Alkohol in nicht geringer Menge zusprach" ersetzt. In den Strafurteilen heiße es: "Man feierte und der Angeklagte nahm Alkohol in unbekannten Maßen zu sich." Dass die Auswirkungen des Dienstvergehens "verheerend" gewesen seien, gehöre als höchst subjektives Vokabular nicht in ein Urteil. Auch bei den Beweggründen weiche das Truppendienstgericht von den Feststellungen in den Strafurteilen ab. Die Ausführungen zur verschärften Haftung Vorgesetzter seien unkritisch. Ausgangspunkt der Zumessungserwägungen für eine außerdienstliche Straßenverkehrsgefährdung i. S. d. § 315c StGB in der Fahrlässigkeits-Fahrlässigkeits-Kombination sei ein Beförderungsverbot. Auf der zweiten Stufe der Zumessungserwägungen habe das Truppendienstgericht versucht, aufzuzeigen, dass er über eine längere Strecke bewusst fahrlässig und rücksichtslos andere Verkehrsteilnehmer gefährdet habe, ohne dass dies festgestellt worden sei. Das Überholmanöver vor dem Unfall unter Einhaltung der zulässigen Geschwindigkeit klassifiziere die Fahrt nicht als rücksichtslos. Vor der Fahrt nach Polen habe er im Übrigen noch geschlafen. Seine Geständigkeit, Reue, freiwillige Bereitschaft zur Zahlung von 20 000 € an das jüngste Opfer und seine lange Nachbewährung nach dem Unfall seien nicht hinreichend gewürdigt worden. Eine förmliche Anerkennung und eine Leistungsprämie seien ihm allein wegen des laufenden Verfahrens nicht gewährt worden. Hinzu komme die überlange Verfahrensdauer.

Rz. 15

5. Der Bundeswehrdisziplinaranwalt hält das angefochtene Urteil für angemessen.

Rz. 16

6. Hinsichtlich der Einzelheiten zur Person des Soldaten und zur Begründung des erstinstanzlichen Urteils wird auf dieses verwiesen. Zu den im Berufungsverfahren eingeführten Unterlagen wird auf das Protokoll der Berufungshauptverhandlung Bezug genommen.

 

Entscheidungsgründe

Rz. 17

Die zulässige Berufung ist unbegründet.

Rz. 18

1. Der Bemessung der Disziplinarmaßnahme sind die Tatfeststellungen des Truppendienstgerichts und seine Schuldfeststellung, dass der Soldat dadurch fahrlässig seine außerdienstliche Wohlverhaltenspflicht nach § 17 Abs. 2 Satz 2 SG a. F. verletzt hat, zugrunde zu legen.

Rz. 19

Denn bei einer auf die Bemessung der Disziplinarmaßnahme beschränkten Berufung des Soldaten hat der Senat seiner Entscheidung gemäß § 91 Abs. 1 Satz 1 WDO i. V. m. § 327 StPO grundsätzlich die Tat- und Schuldfeststellungen sowie die disziplinarrechtliche Würdigung des Truppendienstgerichts zugrunde zu legen und auf dieser Grundlage unter Berücksichtigung des Verschlechterungsverbots (§ 91 Abs. 1 Satz 1 WDO i. V. m. § 331 StPO) über die angemessene Disziplinarmaßnahme zu befinden. Der Prozessstoff wird somit nicht mehr von der Anschuldigungsschrift, sondern nur von den Tat- und Schuldfeststellungen des angefochtenen Urteils bestimmt (vgl. BVerwG, Urteil vom 2. Februar 2023 - 2 WD 3.22 - juris Rn. 18). Schwere Verfahrensfehler, bei deren Vorliegen die Bindungswirkung ausnahmsweise entfällt (vgl. BVerwG, Urteil vom 3. Dezember 2020 - 2 WD 4.20 - Buchholz 450.2 § 38 WDO 2002 Nr. 88 Rn. 17 m. w. N.) liegen aber nicht vor, insbesondere hat das Truppendienstgericht zu Recht gemäß § 84 Abs. 1 Satz 1 WDO die von ihm zitierten tatsächlichen Feststellungen aus den rechtskräftigen Strafurteilen zugrunde gelegt.

Rz. 20

Auch war es durch § 84 Abs. 1 Satz 1 WDO nicht gehindert, entsprechend den Gegebenheiten im Zeitpunkt der Hauptverhandlung vor dem Truppendienstgericht ergänzend festzustellen, dass C. 2018 verstarb und die Hintergründe nicht geklärt werden konnten, dass B. körperlich noch an den Unfallfolgen leidet und nicht mehr in der Lage ist, ihren Beruf auszuüben und dass der Soldat noch leichte unfallbedingte dienstliche Einschränkungen hat. Denn diese für die Maßnahmebemessung relevanten Feststellungen stehen nicht im Widerspruch zu den tatsächlichen Feststellungen des Strafgerichts, das nur die Umstände bis zur dortigen Hauptverhandlung berücksichtigen konnte (vgl. BVerwG, Urteil vom 15. April 2021 - 2 WD 14.20 - Buchholz 450.2 § 84 WDO 2002 Nr. 11 Rn. 23).

Rz. 21

Der Senat ist auch an die weiteren tatsächlichen Feststellungen des Truppendienstgerichts gebunden, dass sich die straßenverkehrsgefährdende Handlung ereignete, als die Sonne blendete und die Straßenverhältnisse wegen Feuchtigkeit und Glätte schlecht waren, der Soldat zudem wusste, Alkohol getrunken zu haben und in der Nacht lange unterwegs gewesen zu sein und dass er dennoch kurz vor dem Unfall drei Fahrzeuge in einem Zug überholte. Denn diese Feststellungen stehen in Einklang mit folgenden Feststellungen im landgerichtlichen Urteil:

"Selbst wenn man bei der Frage, ob der Angeklagte als junger Mann bei einem Blutalkoholgehalt von 0,54 ‰ relativ fahruntüchtig i. S. d. § 315 c Abs. 1 a StGB [gemeint: § 315c Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a StGB] war, Zweifel anmelden würde, muss berücksichtigt werden, dass er eine durchzechte Nacht hinter sich hatte, höchstwahrscheinlich übermüdet und deshalb im Zusammenhang mit dem noch vorhandenen Alkohol fahruntüchtig aufgrund körperlicher Mängel i. S. d. § 315 c Abs. 1 b StGB [gemeint: § 315c Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b StGB] war. Zudem hat der Angeklagte grob verkehrswidrig und rücksichtslos falsch i. S. d. § 315 c Abs. 2 StGB überholt. Denn er ist bereits vor dem eigentlichen Unfallgeschehen - im Hinblick auf die teilweise glatte und unübersichtliche Straße - unangemessen schnell gefahren und hat dabei gleich mehrere Fahrzeuge - unter Gefährdung der jeweiligen Personen und deren Fahrzeuge - überholt. Diesen - als grob verkehrswidrigen und rücksichtslosen zu wertenden - Fahrstil hat er nach dem Überholen der kleinen Kolonne trotz Glätte und weiterer Unübersichtlichkeit der relativ schmalen Straße fortgesetzt, bis es zu dem verheerenden Unfall kam. Selbst wenn man nicht mehr genau aufklären kann, was sich in den letzten (Bruchteilen von) Sekunden vor dem Unfall abgespielt hat, bleibt es bei allen Alternativen stets beim Vorwurf eines grob verkehrswidrigen und rücksichtslosen Verhaltens i. S. d. § 315 c Abs. 2 StGB. Sollte der Angeklagte nach dem Überholen der kleinen Kolonne ein weiteres Fahrzeug überholt haben, wäre der Vorwurf unter § 315 c Abs. 2 Alt. b StGB [gemeint: § 315c Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b StGB] zu subsumieren. Sollte er 'nur' auf Grund überhöhter Geschwindigkeit - eventuell in Verbindung mit einer glatten Stelle - auf die Gegenfahrbahn geraten sein, wäre über das Vorliegen des § 315 c Abs. 2 Alt. d StGB [gemeint: § 315c Abs. 1 Nr. 2 Buchst. d StGB] und/oder § 315 c Abs. 2 Alt. e StGB [gemeint: § 315c Abs. 1 Nr. 2 Buchst. e StGB] zu diskutieren. Jedenfalls ist keine Alternative ersichtlich, wonach der Vorwurf des § 315 c StGB entfallen könnte."

Rz. 22

Die Bindungswirkung der Tat- und Schuldfeststellungen des Truppendienstgerichts für den Senat erfasst auch die konkreten Straftatbestände, aus denen das Truppendienstgericht die ernsthafte Relevanz des außerdienstlichen Verhaltens i. S. d. § 17 Abs. 2 Satz 2 SG a. F. abgeleitet hat (vgl. BVerwG, Urteil vom 9. Dezember 2021 - 2 WD 29.20 - Buchholz 449 § 17 SG Nr. 51 Rn. 22). Dies sind die vom Truppendienstgericht angenommenen Straftatbestände einer fahrlässigen Straßenverkehrsgefährdung nach § 315c Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a und Abs. 3 Nr. 2 StGB sowie einer dreifachen Körperverletzung nach § 229 StGB.

Rz. 23

Der Senat ist infolge der maßnahmebeschränkten Berufung nicht gehindert, zusätzlich eigene, für die Maßnahmebemessung erhebliche Tatsachenfeststellungen zu treffen, solange diese weder im Widerspruch zu den Tat- und Schuldfeststellungen des Truppendienstgerichts stehen noch dadurch dessen rechtliche Würdigung in Frage gestellt wird (vgl. BVerwG, Urteil vom 3. Dezember 2020 - 2 WD 4.20 - Buchholz 450.2 § 38 WDO 2002 Nr. 88 LS 1 und Rn. 18 m. w. N.). Insoweit ist ergänzend festzustellen, dass der Soldat weiterhin nur mit Einschränkungen diensttauglich ist; insbesondere darf er nicht mehr als 5 kg heben.

Rz. 24

2. Bei Art und Maß der zu verhängenden Disziplinarmaßnahme sind nach § 58 Abs. 7 i. V. m. § 38 Abs. 1 WDO Eigenart und Schwere des Dienstvergehens und seine Auswirkungen, das Maß der Schuld, die Persönlichkeit, die bisherige Führung und die Beweggründe des Soldaten zu berücksichtigen. Insoweit legt der Senat ein zweistufiges Prüfungsschema zugrunde:

Rz. 25

a) Auf der ersten Stufe bestimmt er zwecks Gleichbehandlung vergleichbarer Fälle und im Interesse der Rechtssicherheit und Voraussehbarkeit der Disziplinarmaßnahme eine Regelmaßnahme für die betreffende Fallgruppe als Ausgangspunkt der Zumessungserwägungen.

Rz. 26

Eine gefestigte Rechtsprechung zum Ausgangspunkt der Zumessungserwägungen für Fälle, in denen ein außerdienstliches und in strafrechtlicher Hinsicht als fahrlässige Gefährdung des Straßenverkehrs nach § 315c Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a und Abs. 3 Nr. 2 StGB in Tateinheit mit fahrlässiger Körperverletzung gemäß § 229 StGB zu qualifizierendes Verhalten im Raum steht, besteht nicht. Es entspricht dem Gebot kohärenter Rechtsprechung, in solchen Fällen bei aktiven Soldaten von einem Beförderungsverbot auszugehen.

Rz. 27

In Fällen eines fahrlässig verursachten Verkehrsunfalls mit Todesfolge hat der Senat eine Dienstgradherabsetzung als Ausgangspunkt der Zumessungserwägungen festgelegt, wenn in dienst- oder strafrechtlicher Hinsicht zusätzliche erschwerende Umstände vorlagen. In disziplinarrechtlicher Hinsicht wirkt es erschwerend, wenn ein Soldat im Rahmen einer Dienstfahrt fahrlässig einen Verkehrsunfall verursacht, bei dem ein Mensch zu Tode kommt (BVerwG, Urteil vom 11. Dezember 2018 - 2 WD 12.18 - Buchholz 450.2 § 38 WDO 2002 Nr. 61 Rn. 34 ff.). In strafrechtlicher Hinsicht wirkt es erschwerend, wenn durch eine vorsätzliche außerdienstliche Straßenverkehrsgefährdung fahrlässig der Tod eines Menschen verursacht wird (BVerwG, Urteil vom 25. August 2017 - 2 WD 2.17 - Buchholz 450.2 § 38 WDO 2002 Nr. 54 Rn. 52 ff.). Entsprechendes gilt, wenn grob fahrlässig und damit dicht an der Schwelle zu bedingt vorsätzlichem Verhalten eine Straßenverkehrsgefährdung nach § 315c Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a StGB begangen und dadurch fahrlässig der Tod eines anderen Verkehrsteilnehmers verursacht wird (vgl. BVerwG, Urteil vom 23. Januar 2020 - 2 WD 1.19 - Buchholz 450.2 § 38 WDO 2002 Nr. 71 LS und Rn. 20).

Rz. 28

Angesichts dessen ist es sachgerecht, bei einer außerdienstlichen Gefährdung des Straßenverkehrs nach § 315c Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a und Abs. 3 Nr. 2 StGB (Fahrlässigkeits-Fahrlässigkeits-Kombination) in Tateinheit mit fahrlässiger Körperverletzung (§ 229 StGB) statt von einer Dienstgradherabsetzung von einem Beförderungsverbot auszugehen. Denn eine durch eine Straßenverkehrsgefährdung fahrlässig herbeigeführte Körperverletzung wiegt weniger schwer als ein durch eine Straßenverkehrsgefährdung fahrlässig herbeigeführter Tod eines Menschen. Dies folgt auch aus der strafrechtlichen Wertung in § 222 StGB und § 229 StGB, die unterschiedlich hohe Strafmaße vorsehen.

Rz. 29

b) Auf der zweiten Stufe ist zu prüfen, ob im Einzelfall im Hinblick auf die Bemessungskriterien des § 38 Abs. 1 WDO Umstände vorliegen, die eine Milderung oder Verschärfung gegenüber der auf der ersten Stufe angesetzten Regelmaßnahme gebieten. Liegt angesichts der be- und entlastenden Umstände ein höherer bzw. niedrigerer Schweregrad vor, ist die zu verhängende Disziplinarmaßnahme nach "oben" bzw. nach "unten" zu modifizieren. Zusätzlich sind die gesetzlichen Bemessungskriterien für die Bestimmung der konkreten Situation zu gewichten, wenn die Maßnahmeart, die den Ausgangspunkt der Zumessungserwägungen bildet, dem Wehrdienstgericht hinsichtlich des Disziplinarmaßes einen Spielraum eröffnet. Dabei müssen Milderungsgründe umso gewichtiger sein, je schwerer ein Dienstvergehen wiegt (BVerwG, Urteil vom 7. Oktober 2021 - 2 WD 23.20 - BVerwGE 173, 352 Rn. 29 m. w. N.). Danach erweist sich eine Herabsetzung in den Dienstgrad eines Bootsmanns unter Verkürzung der Wiederbeförderungsfrist auf zwei Jahre als angemessen.

Rz. 30

aa) Gegen den Soldaten sprechen folgende Umstände:

Rz. 31

(1) Das Dienstvergehen wiegt nach Art und Schwere im Vergleich zu anderen Fällen denkbarer fahrlässiger Straßenverkehrsgefährdungen in Tateinheit mit einer fahrlässigen Körperverletzung außerordentlich schwer.

Rz. 32

Denn es gibt nicht nur ein, sondern drei Opfer. Zudem sind die ihnen zugefügten Körperverletzungen zum Teil äußerst schwer. Das jüngste Opfer, der 15 Monate alte C., erlitt eine inkomplette Querschnittslähmung, eine Verletzung des zervikalen Rückenmarks, eine Fraktur des Dens axis und eine respiratorische Globalinsuffizienz. Das weitere Opfer B. erlitt ein Polytrauma des Schweregrades I mit einer Fraktur des Querfortsatzes, eine Rippenserienfraktur, ein stumpfes Bauchtrauma sowie einen mehrfragmentären Fersenbeinbruch. Da sich der Fersenbeinbruch entzündete, mussten ihr Teile aus dem Arm genommen werden, um diese in die Fersenwunde einsetzen zu können. Das dritte Opfer D. erlitt ein stumpfes Bauchtrauma, einen Riss in der Milz, eine Zeigefingerfraktur sowie oberflächliche Hautabschürfungen am Becken.

Rz. 33

Zudem handelte der Soldat grob fahrlässig. Grob fahrlässig verhält sich, wer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt in ungewöhnlich schwerem Maße verletzt und dabei Überlegungen unterlässt und Verhaltenspflichten missachtet, die ganz naheliegen und im gegebenen Fall jedem hätten einleuchten müssen (vgl. BVerwG, Urteil vom 2. Februar 2017 - 2 C 22.16 - Buchholz 232.01 § 48 BeamtStG Nr. 1 Rn. 14). Dies hat der Soldat getan. Nach den bindenden Feststellungen des Truppendienstgerichts wusste er, dass er Alkohol getrunken hatte und in der Nacht schon lange unterwegs gewesen war, die Sonne blendete und die Fahrbahn feucht und stellenweise überfroren war. Er überholte mit etwa 100 km/h zunächst drei PKW in einem Zug und zog kurz darauf ohne erkennbaren Anlass wieder nach links herüber, bis er sich mit der gesamten Fahrzeugbreite auf der Gegenfahrbahn befand, wo es zum Zusammenstoß kam. Zwar überschritt der Soldat die nach § 3 Abs. 3 Nr. 2 Buchst. c StVO auf Bundesstraßen außerhalb geschlossener Ortschaften zulässige Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h nicht. Wer ein Fahrzeug führt, darf aber ungeachtet der zulässigen Höchstgeschwindigkeit gemäß § 3 Abs. 1 Satz 1 StVO stets nur so schnell fahren, dass das Fahrzeug ständig beherrscht wird. Die Geschwindigkeit ist nach § 3 Abs. 1 Satz 2 StVO insbesondere den Straßen-, Verkehrs-, Sicht- und Wetterverhältnissen sowie den persönlichen Fähigkeiten und den Eigenschaften von Fahrzeug und Ladung anzupassen. Angesichts der vom Truppendienstgericht festgestellten Rahmenumstände musste sich dem Soldaten aufdrängen, dass in der konkreten Situation das anlasslose Fahren mit etwa 100 km/h auf der linken Spur äußerst gefährlich war bzw., soweit er das Abgleiten auf die linke Spur nicht bewusst wahrgenommen haben sollte, dass es zu einem "Sekundenschlaf" und den damit verbundenen Gefahren kommen konnte.

Rz. 34

(2) Zu den Körperverletzungsfolgen als solchen hinzu treten die weiteren nachteiligen Auswirkungen des Dienstvergehens vor allem für die Opfer. Das jüngste Opfer litt seit dem Unfall im April 2015 bis zu seinem Tod im Jahr 2018 unter den Folgen des Unfalls. Es musste durchweg künstlich beatmet und über eine Bauchsonde künstlich ernährt werden. Seine Lunge musste abgesaugt werden. Einige Male blieb sein Herz kurzfristig stehen. Er war ein Schwerstpflegefall, auf einen Rollstuhl angewiesen. In seiner Entwicklung wurde er erheblich zurückgeworfen. D. war infolge des Unfalls bis 2020 arbeitsunfähig und musste ihr Kind bis zu dessen Tod sechs Stunden täglich pflegen. Sie erlitt zudem erhebliche seelische Belastungen. B. musste sich einer viermonatigen stationären Behandlung mit anschließender vierwöchiger Rehabilitation unterziehen, war erst seit Anfang Februar 2016 in der Lage, wieder zwei Stunden täglich zu arbeiten, verlor jedoch infolge des Unfalls ihren Beruf und kann ihn auch nicht mehr ausüben. An ihrem PKW entstand ein wirtschaftlicher Totalschaden, ebenso an dem vom Soldaten genutzten PKW seiner Mutter.

Rz. 35

(3) Das Dienstvergehen hatte auch erhebliche nachteilige Auswirkungen für den Dienstherrn. Der Soldat konnte unfallbedingt seinen Dienst lange Zeit nicht verrichten. Er wurde nicht nur unmittelbar nach dem Unfall im April 2015 stationär behandelt und sodann drei Monate krankgeschrieben, sondern musste sich 2016 und 2017 Folgeoperationen unterziehen. Dem Beurteilungsbeitrag vom 1. August 2016 zufolge befand er sich drei der vier Monate Kommandierungszeit im ersten Quartal 2016 aufgrund ärztlicher Empfehlung nicht im Dienst. An die Operation im Jahr 2017 schloss sich eine Reha-Behandlung an. Während seiner unfallbedingten Ausfallzeiten stand seine Arbeitskraft seinem Dienstherrn trotz Fortzahlung der Dienstbezüge nicht zur Verfügung. Der Dienstherr musste im Rahmen der Heilfürsorge unfallbedingte Krankheitskosten tragen. Während der Soldat vor dem Unfall körperlich sehr leistungsfähig war, war er danach zeitweise nur innendiensttauglich; auch heute noch ist er nur mit Einschränkungen diensttauglich, darf etwa nicht mehr als 5 kg heben. Kurz vor dem Unfall hatte der Soldat zudem einen Fachlehrgang besucht, den er wegen der unfallbedingten Ausfallzeiten wiederholen musste.

Rz. 36

(4) Des Weiteren hatte der Soldat zur Tatzeit als Bootsmann eine Vorgesetztenstellung inne (vgl. § 1 Abs. 3 Satz 1 und 2 SG i. V. m. § 4 Abs. 1 Nr. 2 und Abs. 3 VorgV). Nach § 10 SG war er damit zu vorbildlicher Pflichterfüllung verpflichtet. Wer in dieser Stellung eine Pflichtverletzung begeht, gibt ein schlechtes Vorbild ab, was das Gewicht seines Dienstvergehens erhöht (vgl. BVerwG, Urteil vom 1. Oktober 2020 - 2 WD 20.19 - Buchholz 450.2 § 38 WDO 2002 Nr. 84 Rn. 40 m. w. N.). Dies gilt auch bei einem außerdienstlichen schwerwiegenden Fehlverhalten (vgl. BVerwG, Urteil vom 4. Juni 2020 - 2 WD 10.19 - Buchholz 450.2 § 38 WDO 2002 Nr. 77 Rn. 27 m. w. N.). Dabei ist es nicht erforderlich, dass es der Soldat innerhalb eines konkreten Vorgesetztenverhältnisses an Beispielhaftigkeit hat fehlen lassen. Es genügt das Innehaben einer Vorgesetztenstellung aufgrund des Dienstgrads (vgl. BVerwG, Urteil vom 14. Januar 2021 - 2 WD 7.20 - Buchholz 450.2 § 38 WDO 2002 Nr. 89 Rn. 40 m. w. N.).

Rz. 37

(5) Verwerflich sind schließlich die Beweggründe des Soldaten. Er hatte es nach der durchzechten Nacht eilig, weil er nach Hause kommen wollte. Dies war ihm wichtiger als Leib und Leben anderer Verkehrsteilnehmer.

Rz. 38

bb) Demgegenüber sprechen für den Soldaten folgende Umstände:

Rz. 39

(1) Er ist geständig, einsichtig und reuig. Im Strafverfahren hat er persönlich gegenüber den beiden noch lebenden Opfern sein Bedauern zum Ausdruck gebracht und sich entschuldigt.

Rz. 40

(2) Der Soldat hat unter den Folgen des Dienstvergehens wegen seiner eigenen Verletzungen und der psychischen Auswirkungen selbst stark gelitten.

Rz. 41

(3) Für ihn spricht des Weiteren, dass er nach dem Dienstvergehen nicht den "Kopf in den Sand gesteckt", sondern durchweg gute dienstliche Leistungen erbracht hat. Dies folgt aus den Aussagen der Leumundszeugen, dem Beurteilungsbeitrag vom 5. März 2018 und der Sonderbeurteilung vom 25. November 2022. Der klassische Milderungsgrund einer Nachbewährung liegt allerdings nicht vor. Er setzt in fachlicher Hinsicht eine deutliche Leistungssteigerung oder die Beibehaltung eines hohen Leistungsniveaus voraus (vgl. BVerwG, Urteile vom 14. Februar 2019 - 2 WD 18.18 - Buchholz 450.2 § 63 WDO 2002 Nr. 3 Rn. 31 m. w. N. und vom 14. Januar 2021 - 2 WD 7.20 - Buchholz 450.2 § 38 WDO 2002 Nr. 89 Rn. 37). Zudem muss sich der Soldat während des Verfahrens in jeder Hinsicht ohne Anlass zu Beanstandungen durch seine Vorgesetzten führen (BVerwG, Urteil vom 29. November 2012 - 2 WD 10.12 - juris Rn. 48). Zwar bewegten sich die dienstlichen Leistungen des Soldaten im guten, nicht aber im Spitzenbereich. So erhielt er in der Sonderbeurteilung nur das Gesamturteil "D". Zudem fiel er längere Zeiträume unfallbedingt aus, war zeitweise nur innendiensttauglich und ist weiterhin nur mit Einschränkungen diensttauglich.

Rz. 42

(4) Nicht hingegen entlastet den Soldaten disziplinarrechtlich, dass er sich im landgerichtlichen Verfahren freiwillig in einem Vergleich verpflichtet hat, dem jüngsten Opfer ein Schmerzensgeld von 20 000 € zu zahlen. Denn er war zivilrechtlich ohnehin zu einer Schmerzensgeldzahlung verpflichtet.

Rz. 43

cc) Bei einer Gesamtwürdigung wäre an sich eine zweistufige Dienstgradherabsetzung angemessen. Denn nach Art und Schwere des Dienstvergehens ist wegen des Vorliegens eines besonders schweren Falls ein Übergang von der Regelmaßnahme des Beförderungsverbots (§ 58 Abs. 1 Nr. 2 WDO) zur nächsthöheren Maßnahmeart der Dienstgradherabsetzung (§ 58 Abs. 1 Nr. 4 WDO) angezeigt, die im Fall des Soldaten nach § 62 Abs. 1 Satz 4 WDO dem Grunde nach bis in den untersten Mannschaftsdienstgrad zulässig ist. In Abwägung aller weiteren für und gegen den Soldaten sprechenden Umstände wäre eine Herabsetzung um zwei Dienstgrade angemessen.

Rz. 44

dd) Die ungerechtfertigte Überlänge des Disziplinarverfahrens um etwa ein Jahr und zehn Monate gebietet es jedoch, ihn um einen Dienstgrad weniger herabzusetzen und die Wiederbeförderungsfrist auf zwei Jahre zu verkürzen.

Rz. 45

Denn in Fällen, in denen statt der Höchstmaßnahme eine pflichtenmahnende Disziplinarmaßnahme geboten ist, ist eine gegen Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK und Art. 19 Abs. 4, Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG verstoßende, unangemessene Verfahrensdauer bei der Bestimmung der Disziplinarmaßnahme aus Gründen der Verhältnismäßigkeit mildernd zu berücksichtigen (vgl. BVerwG, Urteil vom 8. September 2020 - 2 WD 18.19 - Buchholz 450.2 § 38 WDO 2002 Nr. 82 Rn. 75 m. w. N.), wobei der für die Verfahrensdauer maßgebliche Zeitraum ein behördliches Vorschaltverfahren umfassen kann (vgl. EGMR, Urteil vom 16. Juli 2009 - Nr. 8453/04, Bayer/Deutschland - NVwZ 2010, 1015 Rn. 44).

Rz. 46

Bezugspunkt für die Beurteilung der Angemessenheit ist die Gesamtverfahrensdauer. Dies hat zur Folge, dass Verzögerungen, die in einem Stadium des Verfahrens oder bei einzelnen Verfahrensabschnitten eingetreten sind, nicht zwingend die Unangemessenheit der Verfahrensdauer bewirken. Vielmehr ist im Rahmen einer abschließenden Gesamtabwägung zu prüfen, ob Verzögerungen in einer späteren Phase des Verfahrens kompensiert wurden (vgl. BVerwG, Urteil vom 13. Oktober 2022 - 2 WD 2.22 - Buchholz 450.2 § 38 WDO 2002 Nr. 97 Rn. 83).

Rz. 47

(1) Ausgehend davon war das bei der Verfahrensdauer zu berücksichtigende disziplinarische Vorermittlungsverfahren (vgl. BVerwG, Urteil vom 15. Oktober 2020 - 2 WD 1.20 - BVerwGE 169, 388 Rn. 41) um etwa zwei Monate überlang.

Rz. 48

Bei zureichenden Anhaltspunkten für den Anfangsverdacht eines schwerwiegenden Dienstvergehens sollte das gerichtliche Disziplinarverfahren bei einer dem Beschleunigungsgebot (§ 17 Abs. 1 WDO) entsprechenden zügigen Durchführung der erforderlichen Anhörungen der Vertrauensperson und des Soldaten jedenfalls innerhalb eines angemessenen Bearbeitungszeitraums von drei Monaten eingeleitet werden (vgl. BVerwG, Urteile vom 15. Oktober 2020 - 2 WD 1.20 - BVerwGE 169, 388 Rn. 44 und vom 8. Juli 2021 - 2 WD 22.20 - Buchholz 450.2 § 38 WDO 2002 Nr. 95 Rn. 39). Die Wehrdisziplinaranwaltschaft erhielt am 7. November 2018 Kenntnis von der seit 17. Januar 2018 rechtskräftigen strafrechtlichen Verurteilung des Soldaten. Angesichts dessen hätte das gerichtliche Disziplinarverfahren bis zum 7. Februar 2019 eingeleitet werden sollen. Es wurde aber erst am 9. April 2019 eingeleitet.

Rz. 49

Zwar hätte die Wehrdisziplinaranwaltschaft ihre Vorermittlungen früher aufnehmen können, wenn die Staatsanwaltschaft eher über das seit dem 17. Januar 2018 rechtskräftige Strafurteil bzw. bereits im November 2015 gemäß MiStra Nr. 19 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 und Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 über die Anklageerhebung beim Amtsgericht informiert hätte. Die durch die verspätete Mitteilung der Staatsanwaltschaft eingetretene Verzögerung ist indes bei der Dauer des Disziplinarverfahrens nicht zu Gunsten des Soldaten zu berücksichtigen. Es kann dahinstehen, ob dies bereits daraus folgt, dass das an das Strafverfahren geknüpfte Mitteilungsverfahren und das Disziplinarverfahren jeweils selbstständig sind (dazu BVerfG, Kammerbeschluss vom 12. Dezember 2007 - 1 BvR 2536/07 - BVerfGK 13, 58 ≪61≫). Jedenfalls hätte der Soldat nach § 95 Abs. 1 Satz 1 WDO die Möglichkeit gehabt, von sich aus die Einleitung eines gerichtlichen Disziplinarverfahrens zu beantragen. Auf einen solchen Antrag hin hätte die Einleitungsbehörde Vorermittlungen durchführen müssen. Zwar war der Soldat zu einem solchen Antrag nicht verpflichtet, weil er sich nicht selbst belasten musste. Jedoch wurde die späte Aufnahme der Vorermittlungen wegen der versäumten Stellung eines solchen Antrags (auch) von ihm selbst verursacht. Sie scheidet damit als Grundlage einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung aus (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 12. Dezember 2007 - 1 BvR 2536/07 - BVerfGK 13, 58 ≪62 f.≫; BVerwG, Urteil vom 3. Juni 2021 - 2 WD 18.20 - Buchholz 450.2 § 38 WDO 2002 Nr. 93 Rn. 38).

Rz. 50

(2) Zudem weist das gut drei Jahre lange erstinstanzliche Verfahren eine nicht gerechtfertigte Überlänge von etwa zwei Jahren auf. Angesichts des bei Eingang der Anschuldigungsschrift bereits vorliegenden rechtskräftigen Strafurteils und der geständigen Einlassung des Soldaten wäre mit Blick auf die durchschnittliche Schwierigkeit des Verfahrens und der Bedeutung für den Soldaten zu erwarten gewesen, dass das Urteil binnen eines guten Jahres ergeht. Rechtfertigende Gründe für die mangelnde Förderung des Verfahrens sind der Akte nicht zu entnehmen. Ein zwischenzeitlicher Richterwechsel in der Truppendienstkammer ist dem Soldaten nicht anzulasten, ebenso wenig die zweimalige Verschiebung des Hauptverhandlungstermins.

Rz. 51

(3) Demgegenüber war das binnen gut acht Monaten abgeschlossene Berufungsverfahren um vier Monate unterdurchschnittlich lang, was bei der Gesamtverfahrenslänge kompensatorisch zu berücksichtigen ist und zu einer Überlänge des Gesamtverfahrens von etwa einem Jahr und zehn Monaten führt.

Rz. 52

3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 139 Abs. 2, § 140 Abs. 5 Satz 2 WDO.

 

Fundstellen

NVwZ-RR 2023, 5

NVwZ-RR 2024, 56

JZ 2023, 707

ZfS 2023, 719

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