Entscheidungsstichwort (Thema)

Schädigung während der NS-Zeit. Judenverfolgung. ausländische Staatsangehörigkeit. Zwangsverkauf. verfolgungsbedingter Vermögensverlust

 

Leitsatz (amtlich)

Auch außerhalb Deutschlands wohnende Juden mit ausländischer Staatsangehörigkeit zählen zum Personenkreis der kollektiv Verfolgten im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Buchst. b REAO (im Anschluß an die Rspr. zum Rückerstattungsrecht).

 

Normenkette

VermG § 1 Abs. 6

 

Verfahrensgang

VG Dresden (Urteil vom 20.10.1998; Aktenzeichen 11 K 3624/97)

 

Tenor

Das Urteil des Verwaltungsgerichts Dresden vom 20. Oktober 1998 wird aufgehoben.

Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Verwaltungsgericht zurückverwiesen.

Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlußentscheidung vorbehalten.

Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 920 000 DM festgesetzt.

 

Gründe

Die Beschwerde der Beigeladenen ist begründet. Die Rechtssache hat zwar nicht die behauptete grundsätzliche Bedeutung im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO (1). Ebensowenig greift die Divergenzrüge gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO durch (2). Das Urteil beruht aber auf einem Verfahrensmangel im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO (3).

1. Die Beschwerde hält die Frage für höchstrichterlich klärungsbedürftig, ob Juden mit nichtdeutscher Staatsangehörigkeit und Wohnsitz im Ausland zu dem Personenkreis der kollektiv Verfolgten im Sinne von § 1 Abs. 6 VermG i.V.m. Art. 3 Abs. 1 Buchst. b des II. Abschnitts der Anordnung BK/O (49) 180 der Alliierten Kommandantur Berlin – REAO – vom 26. Juli 1949 (VOBl für Groß-Berlin I S. 221) gehören. Diese Frage rechtfertigt indes nicht die Zulassung der Revision gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO. Denn sie läßt sich ohne weiteres aus den maßgebenden Vorschriften in Verbindung mit der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts beantworten, ohne daß es hierfür erst der Durchführung eines Revisionsverfahrens bedürfte.

In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist geklärt, daß alle jüdischen Bürger in der Zeit vom 30. Januar 1933 bis zum 8. Mai 1945 einer Verfolgung aus rassischen, politischen, religiösen oder weltanschaulichen Gründen im Sinne von § 1 Abs. 6 Satz 1 VermG ausgesetzt waren. Dementsprechend gilt gemäß Art. 3 Abs. 1 Buchst. b REAO – auf den § 1 Abs. 6 Satz 2 VermG Bezug nimmt – die gesetzliche Vermutung der Verfolgungsbedingtheit bestimmter Rechtsgeschäfte auch und gerade für jüdische Bürger, weil sie zu einem Personenkreis gehörten, den in seiner Gesamtheit die deutsche Regierung oder die NSDAP durch ihre Maßnahmen aus den genannten Gründen vom kulturellen und wirtschaftlichen Leben Deutschlands auszuschließen beabsichtigten (vgl. zuletzt etwa BVerwG, Urteil vom 24. Februar 1999 – BVerwG 8 C 15.98 – VIZ 1999, 334 m.w.N.). Zu diesem kollektiv verfolgten Personenkreis gehörten ab dem Tag der Machtübernahme der Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 alle Menschen jüdischer Herkunft, auch wenn sie nicht die deutsche, sondern eine andere Staatsangehörigkeit besaßen und außerhalb Deutschlands lebten. Diese Personen mußten, wenn sie Vermögen in Deutschland besaßen, grundsätzlich ebenso mit Verfolgungsmaßnahmen in vermögensrechtlicher Hinsicht rechnen wie in Deutschland ansässige jüdische Bürger. Dies war einhellige Auffassung in der Rechtsprechung zum früheren Rückerstattungsrecht (vgl. z.B. ORG Berlin, RzW 1954, 252; ORG Berlin, RzW 1955, 287; ORG Nürnberg, RzW 1957, 98; ORG Herford, RzW 1959, 496; ORG Rastatt, RzW 1951, 272). Für den Schädigungstatbestand des § 1 Abs. 6 VermG gilt nichts anderes. Denn diese Vorschrift ist anhand der früheren Rückerstattungsregelungen und der dazu ergangenen Rechtsprechung, mithin im Lichte des Art. 3 Abs. 1 REAO auszulegen (vgl. BVerwG, Urteil vom 24. Februar 1999 – BVerwG 8 C 15.98 – a.a.O. m.w.N.).

Zutreffend hat deshalb das Verwaltungsgericht zugunsten der Klägerin, die gemäß § 2 Abs. 1 Satz 3 VermG Rechtsnachfolgerin der jüdischen Berechtigten ist, auf das streitige Verkaufsgeschäft vom 15. Mai 1934 die Vermutungsregelung des Art. 3 Abs. 1 Buchst. b REAO und die Vorschrift des Art. 3 Abs. 2 REAO über die Möglichkeit einer Widerlegung dieser Vermutung angewendet. Auf die Frage, ob die damaligen Eigentümer und Verkäufer des Grundstücks als in der Tschechoslowakei lebende tschechoslowakische Staatsbürger gemäß Art. 3 Abs. 1 Buchst. a i.V.m. Art. 1 REAO wegen ihrer jüdischen Herkunft in Deutschland zum Zeitpunkt der Grundstücksveräußerung einer individuellen Verfolgung ausgesetzt waren, kommt es mithin nicht an.

2. Zu Unrecht meint die Beschwerde, das angefochtene Urteil weiche von dem Beschluß des Bundesverwaltungsgerichts vom 18. Juni 1998 – BVerwG 8 B 56.98 – VIZ 1999, 24 ab. Das Bundesverwaltungsgericht hat in diesem Beschluß ausgeführt, daß bei der Bestimmung des angemessenen Kaufpreises im Sinne von Art. 3 Abs. 2 REAO von dem im Wege der freien Beweiswürdigung zu ermittelnden Verkehrswert eines Grundstücks auszugehen ist. Allerdings sind Behörden und Verwaltungsgerichte nicht gehindert, bei der Bestimmung des angemessenen Kaufpreises aus Gründen der Vereinfachung auf den damaligen Einheitswert des Grundstücks abzustellen, wenn sich der Verkehrswert nicht mehr ermitteln läßt. Dabei kann von einem Erfahrungssatz ausgegangen werden, daß der Einheitswert die unterste Grenze des Verkehrswerts bildet. Von diesen Grundsätzen hat sich das Verwaltungsgericht leiten lassen, indem es zur Bestimmung des angemessenen Kaufpreises auf den damaligen Verkehrswert des Grundstücks abgehoben hat.

3. Die Beschwerde ist jedoch gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO begründet. Das angefochtene Urteil leidet an einem Aufklärungsmangel (§ 86 Abs. 1 VwGO), weil es das Verwaltungesgericht unterlassen hat, die Tochter der früheren Eigentümer, Frau R…, als Zeugin zu vernehmen.

Nach der – zutreffenden – materiellrechtlichen Auffassung des Verwaltungsgerichtes konnte die zugunsten der Klägerin bestehende Vermutung, daß der streitige Grundstücksverkauf eine ungerechtfertigte Entziehung war, gemäß Art. 3 Abs. 2 REAO nur durch den Beweis widerlegt werden, daß der Veräußerer einen angemessenen Kaufpreis erhalten hat und daß er über ihn frei verfügen konnte. Mit Recht meint die Beschwerde, daß das Verwaltungsgericht zu diesen beiden entscheidungserheblichen Tatsachen Frau R… als Zeugin hätte vernehmen müssen.

Diese Vernehmung hätte sich dem Verwaltungsgericht aus folgenden Gründen aufdrängen müssen: Bereits im Bescheid des Beklagten vom 24. Oktober 1996 wie auch im Widerspruchsbescheid vom 1. Dezember 1997 wird die Tatsache erwähnt, daß die Kinder und Erben der früheren Eigentümer, darunter Frau R…, im Verfahren beim Ausgleichsamt Bremen hinsichtlich des streitigen Grundstücks keine Ansprüche angemeldet hätten. Darauf hat die Beigeladene in ihrem Schriftsatz vom 28. September 1998 (Seite 4) an das Verwaltungsgericht Bezug genommen und ausgeführt, die noch lebende Tochter der früheren Eigentümer habe keine Ansprüche auf das Grundstück gestellt, weil ihr bewußt gewesen sei, daß der damalige Hausverkauf korrekt abgelaufen sei und nichts mit einer individuellen oder kollektiven Verfolgung zu tun gehabt habe. Aus den von der Beklagten in Kopie beigezogenen Akten des Ausgleichsamts Bremen (Verwaltungsakte Bl. 41 ff.) ergibt sich nicht nur der Name und die damalige Anschrift von Frau R…, sondern auch ihr Geburtsdatum, nämlich das Jahr 1917. Entgegen der somit aktenwidrigen Annahme des Verwaltungsgerichts war Frau R… zum Zeitpunkt des Verkaufs also nicht sieben, sondern 17 Jahre alt. Ferner ergibt sich aus den Akten des Ausgleichsamts Bremen, daß Frau R… noch bis zum Jahr 1939 in der Tschechoslowakei gelebt und Kontakt mit ihren Eltern hatte. Unter diesen Umständen lag es mit Blick auf die Ausführungen der Beigeladenen im Schriftsatz vom 28. September 1998 mehr als nahe nachzuforschen, ob Frau R… tatsächlich noch am Leben war und ob von ihr sachdienliche Angaben über den streitigen Grundstücksverkauf zu erhalten waren. Solche Ermittlungen drängten sich auch ohne ausdrücklichen Beweisantrag des anwaltlich nicht vertretenen Beigeladenen insbesondere deshalb auf, weil Frau R… weder in dem von ihr durchgeführten Lastenausgleichsverfahren noch später nach Inkrafttreten des Vermögensgesetzes Ansprüche bezüglich des streitigen Grundstücks erhoben hat. Die Annahme des Verwaltungsgerichts, Frau R… habe “von dem elterlichen Vermögen in D… wohl keine Kenntnis gehabt”, ist ersichtlich von der aktenwidrigen Annahme über das Alter der Zeugin geprägt. Dementsprechend konnte das Verwaltungsgericht auch nur aufgrund dieser Aktenwidrigkeit die Behauptung der Beigeladenen als “nicht nachvollziehbar” beiseite schieben, Frau R… habe den seinerzeitigen Grundstücksverkauf als korrekt angesehen und deshalb im Lastenausgleichsverfahren unerwähnt gelassen. Eben dies ergibt sich übrigens aus den von der Beschwerde vorgelegten Erklärungen der Frau R… vom 14. Mai 1999.

Liegt somit ein Verstoß gegen § 86 Abs. 1 VwGO vor, kann offenbleiben, ob die weiteren von der Beschwerde gerügten Verfahrensmängel gegeben sind. Ebensowenig kommt es auf die Ausführungen der Beschwerde zur Wiederaufnahme des Verfahrens an. Der beschließende Senat macht von der Möglichkeit des § 133 Abs. 6 VwGO Gebrauch und verweist unter Aufhebung des angefochtenen Urteils den Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Verwaltungsgericht zurück.

Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf § 14 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3, § 13 Abs. 1 Satz 1 GKG.

 

Unterschriften

Dr. Franßen, Dr. Paetow, Kley

 

Fundstellen

VIZ 2000, 94

NJ 1999, 556

OVS 1999, 320

OVS 2000, 109

www.judicialis.de 1999

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