Entscheidungsstichwort (Thema)

Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung

 

Verfahrensgang

OLG Hamm (Beschluss vom 18.01.1995; Aktenzeichen 5 UF 266/94)

 

Tenor

Die Vollstreckung aus dem Beschluß des Oberlandesgerichts Hamm vom 18. Januar 1995 – 5 UF 266/94 –, durch den die Herausgabe der Beschwerdeführerin zu 2) zum Zwecke ihrer sofortigen Rückführung in die Vereinigten Staaten von Amerika angeordnet wird, wird bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerden ausgesetzt.

 

Tatbestand

Die Verfassungsbeschwerden betreffen die Herausgabe eines Kleinkindes nach dem Haager Übereinkommen über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung (HKÜ). Beschwerdeführerinnen sind die Mutter und die von einem Ergänzungspfleger vertretene Tochter.

I.

1. Die Beschwerdeführerin zu 1), deutsche Staatsangehörige, und der Vater der Beschwerdeführerin zu 2), Staatsangehöriger der Vereinigten Staaten von Amerika, hatten seit ihrer Heirat im Jahr 1988 ihren gewöhnlichen Aufenthalt in einer Großstadt in den Vereinigten Staaten (USA). Im Februar 1993 wurde die Beschwerdeführerin zu 2) in den USA geboren. Sie besitzt sowohl die deutsche als auch die amerikanische Staatsangehörigkeit. Im Juni 1993 zog der Vater aus dem Familienheim aus; seitdem leben die Eheleute getrennt. Der Vater besuchte die Beschwerdeführerin zu 2), wobei streitig ist, in welchem Umfang. Bei den Gesprächen über die Trennungs- und Scheidungsfolgen ging der Vater von der Überlegung aus, daß die Beschwerdeführerin zu 2) weiterhin bei der Mutter leben sollte. Er bot dieser finanzielle Vorteile an, die für den Fall der Rückkehr in die Bundesrepublik entfallen sollten, um zu erreichen, daß beide in den USA blieben. Unmittelbar bevor eine der Beschwerdeführerin zu 1) vom Vater angekündigte Verbleibensanordnung zugestellt werden konnte, verließen die Beschwerdeführerinnen die USA; sie leben seitdem im Haushalt der Eltern der Beschwerdeführerin zu 1). Diese ist nicht mehr berufstätig, sondern widmet sich ganz der Betreuung der Tochter.

Durch einstweilige Anordnung des für den jetzigen Aufenthaltsort des Kindes zuständigen Familiengerichts vom Dezember 1993 wurde die elterliche Sorge für das Kind für die Dauer der Trennung der Beschwerdeführerin zu 1) übertragen.

Im März 1994 ordnete das amerikanische Gericht an, daß die Beschwerdeführerin zu 1) das Kind in die USA zurückzubringen habe. Dem Vater wurde bescheinigt, daß er (gemeinsam mit der Mutter) das Sorgerecht vor der unrechtmäßigen Wegnahme ausgeübt habe. Er sei auch geeignet, vorläufig das Sorgerecht allein auszuüben. Da er jedoch bereit sei, das Sorgerecht gemeinsam mit der Mutter auszuüben, werde beiden Eltern das Sorgerecht entsprechend der bisherigen Handhabung gemeinsam übertragen.

2. Im Ausgangsverfahren beantragte der Vater im Mai 1994, die Herausgabe der Beschwerdeführerin zu 2) nach dem HKÜ anzuordnen.

a) Das Amtsgericht lehnte den Herausgabeantrag nach persönlicher Anhörung der Eltern ab, weil ein widerrechtliches Verbringen des Kindes von den USA nach Deutschland nicht gegeben sei. Die Beschwerdeführerin zu 1) habe die elterliche Sorge faktisch allein ausgeübt; es fehle daher an der notwendigen Voraussetzung, daß die tatsächliche Sorge des widersprechenden Elternteils noch ausgeübt wurde.

b) Im Beschwerdeverfahren vor dem Oberlandesgericht legte der Vater die Widerrechtlichkeitsbescheinigung des amerikanischen Gerichts vor und wiederholte die Tatsachen, aus denen sich nach seiner Auffassung ergab, daß er auch noch nach der Trennung der Eltern das Sorgerecht ausgeübt habe.

Die Beschwerdeführerin zu 1) machte geltend, dem Kind würde ein erhebliches Opfer abverlangt, wenn es in die USA verbracht werden müßte. Der Ortswechsel mit dem Verlust des gesamten Umfeldes sowie die Konfrontation mit unbekannten Menschen, einer unbekannten Sprache und einer unbekannten räumlichen und sozialen Umgebung würden zu schwerwiegenden körperlichen und seelischen Schäden führen. Das Kind müsse in den USA zudem fremdbetreut werden, da der Vater weder bereit noch in der Lage sei, das Kind zu betreuen und zu versorgen. Der Vater habe außerdem Charakterzüge entwickelt, die vorher an ihm nicht erkennbar gewesen seien. Seinen aggressiven und unberechenbaren Reaktionen dürfe die Tochter nicht ausgesetzt werden. Außer der zwangsläufig erheblichen Schädigung des Kindes könne das Verfahren nichts bewirken; es sei deshalb mit der ratio legis des HKÜ nicht vereinbar. In der Bundesrepublik erfahre die Beschwerdeführerin zu 2) demgegenüber die bestmögliche Förderung.

Der Vater erklärte bei seiner Anhörung vor dem Oberlandesgericht, er werde sich mehrere Wochen freinehmen, falls die Tochter in die USA zurückkehre. Dann solle das Kind an einen Kindergarten gewöhnt werden. Er habe auch die Möglichkeit, ein Kindermädchen einzustellen. Besser sei es natürlich, wenn die Beschwerdeführerin zu 1) mit dem Kind zurückkehre.

c) Durch Beschluß vom 18. Januar 1995 ordnete das Oberlandesgericht die Herausgabe der Beschwerdeführerin zu 2) an den Vater zum Zwecke ihrer sofortigen Rückführung in die USA an.

Die Zurückhaltung des Kindes sei widerrechtlich, da der Vater mit der Trennung von der Beschwerdeführerin zu 1) nicht zugleich die Ausübung der tatsächlichen Sorge für die Tochter aufgegeben habe. Es gebe auch keine Anzeichen dafür, daß der Vater das Sorgerecht habe aufgeben wollen. Für ihn sei es vielmehr von erheblicher Bedeutung gewesen, daß die Tochter in den USA verblieb, damit er das Sorgerecht mit seiner Ehefrau gemeinsam habe ausüben können. Es liege auch keine Ausnahme von der Rückführungsverpflichtung nach Art. 13 Abs. 1 Buchstabe b HKÜ vor. Die unvermeidlichen Folgen einer erneuten Aufenthaltsänderung, eines Wechsels in ein anderes Sprach- und Kulturgebiet und soziales Milieu reichten hierfür ebenso wie Folgen für andere Personen als das Kind nicht aus, da sonst dazu beigetragen würde, die unzulässige Selbsthilfe praktisch doch durchzusetzen. Es möge sein, daß durch die Rückführung beim Kind psychische Belastungen entstünden, die auch durch eine mögliche Trennung von der Mutter als wahrscheinlicher Hauptbezugsperson eintreten könnten. Dies müsse jedoch im Rahmen des Haager Übereinkommens, nach dem nur über die Rückführung, nicht jedoch über das Sorgerecht zu entscheiden sei, unberücksichtigt bleiben.

Die Wiederherstellung des vorigen Zustandes könne hier in der Weise vor sich gehen, daß die Mutter mit dem Kind in die USA zurückkehre. Die von ihr befürchteten psychischen Nachteile für das Kind ließen sich so weitgehend vermeiden. Im übrigen bestehe nach Anhörung des Vaters und nach Aktenlage kein Zweifel, daß er das Kind in den Vereinigten Staaten mit der gebotenen Fürsorge behandeln werde. Nach anfänglicher persönlicher Betreuung wolle er das Kind in eine in Amerika übliche Betreuung geben, die von einem Kinderpsychologen begleitet werden solle.

Soweit die Beschwerdeführerin zu 1) eine Reihe von Gründen vortrage, die für sie die Unzumutbarkeit der eigenen Rückkehr begründeten, sei dies unerheblich, da Art. 13 HKÜ nur eine schwerwiegende Gefahr für das Kind, nicht aber für den Entführer, gelten lasse.

d) Nach Erlaß des Beschlusses des Oberlandesgerichts verlangte der Vater, die (freiwillige) Rückführung solle bis zum 13. Februar 1995 erfolgen. Ein Flugticket werde hinterlegt; außerdem zahle er für sechs Monate eine Überbrückungsbeihilfe. Schon vor Ablauf der Frist bereitete er für den 9. Februar 1995 die Vollstreckung vor, die vom Gerichtsvollzieher nach gewaltsamem Öffnen der Wohnung eingestellt wurde, da das Kind an Scharlach erkrankt sei.

 

Entscheidungsgründe

II.

Gegen die Entscheidung des Oberlandesgerichts hat die Mutter im eigenen Namen und namens des Kindes, für das im Verlauf des Verfahrens ein Ergänzungspfleger bestimmt wurde, Verfassungsbeschwerde erhoben, mit der sie eine Verletzung der Rechte aus Art. 2 Abs. 1 und 2, Art. 3 Abs. 2, Art. 6 Abs. 1, 2, 3 und 4 sowie Art. 11 Abs. 1, Art. 16 Abs. 2 Satz 1 und Art. 103 Abs. 1 GG rügt und die Verfassungsmäßigkeit des HKÜ zur Nachprüfung stellt. Nach Anordnung einer Ergänzungspflegschaft hat auch der Ergänzungspfleger namens der Beschwerdeführerin zu 2) Verfassungsbeschwerde erhoben.

1. a) Die Beschwerdeführerin zu 1) trägt vor, das Kindeswohl müsse vor allen anderen Kriterien maßgeblich sein. Dem Kind sei eine Trennung von der Mutter nicht zumutbar. Sie selbst sei aber weder verpflichtet noch bereit, in die USA zurückzukehren. Nachdem der Vater die Familie verlassen habe, sei die Wiederherstellung des familiären Zusammenlebens in den USA undenkbar. Die gerichtliche Lösung des Konflikts zwischen den Eltern müsse auf das Wohl des Kindes ausgerichtet sein und das Kind in seiner Individualität als Grundrechtsträger berücksichtigen. Dieser verfassungsrechtlich gebotenen Prüfung habe sich das Oberlandesgericht durch den Hinweis entzogen, es gehe nicht um das Sorgerecht, sondern um die Rückführung.

Art. 103 Abs. 1 GG sei verletzt, weil der Senat sich der Aufklärung des streitigen Sachverhalts durch den Hinweis entzogen habe, den Behauptungen des Entführers sei stets mit gebührender Skepsis zu begegnen. Die vorgetragenen und unter Beweis gestellten nachteiligen Konsequenzen für das Kind seien nicht aufgeklärt worden.

b) Beide Beschwerdeführerinnen beantragen zugleich den Erlaß einer einstweiligen Anordnung. Die Aussetzung der Vollziehung sei zur Abwendung schwerer Nachteile für die Beschwerdeführerinnen dringend geboten. Erginge die einstweilige Anordnung nicht, erwiesen sich die Verfassungsbeschwerden aber als begründet, würde dem Kind mit der Rückführung in die USA und einer späteren Rückführung in die Bundesrepublik ein schwerer Schaden zugefügt. Erließe das Gericht aber antragsgemäß die einstweilige Anordnung und erwiesen sich später die Verfassungsbeschwerden wider Erwarten als unbegründet, so würde die Rückführung in die USA nur geringfügig verzögert. Da sich das Kind ohnehin seit Mitte November 1993 in der Bundesrepublik aufhalte und damit fast drei Viertel seines gesamten bisherigen Lebens hier verbracht habe, müsse im Interesse des Kindes die mögliche Verzögerung der Rückführung in Kauf genommen werden.

Für die Beschwerdeführerin zu 2) macht ihr Pfleger ergänzend geltend, daß das zwei Jahre alte Kind bei der Entscheidung über das Sorgerecht nicht mithelfen könne. Aus der Sicht des Kindes bestehe deshalb nicht die Notwendigkeit seiner Gegenwart vor dem Gericht in den USA bis zur Entscheidung über das Sorgerecht.

Letztlich müßten sich die Interessen des Kindes auch gegen die Interessen unvernünftig handelnder Eltern durchsetzen lassen und ihnen vorgehen. Die Beschwerdeführerin zu 2) habe deshalb für die Dauer der Entscheidungsfindung über das Sorgerecht Anspruch auf Verbleib bei der Mutter, solange dort ihr Wohl nicht gefährdet sei. Demgegenüber müßten die allgemein gehaltenen Versprechungen des Vaters, denen im Zuge der gewünschten Herausgabe stets mit gebührender Skepsis zu begegnen sei, im Interesse des Kindeswohls durch eigene gerichtliche Ermittlungen überprüft werden. Der Vater müsse ferner an seinem tatsächlichen Verhalten beurteilt werden, zu dem hier auch der Vollstreckungsversuch gehöre.

2. Der Vater regt an, den Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung durch Nichtannahme der Verfassungsbeschwerde zu erledigen.

Die Zentrale Behörde habe bereits im April 1994 die Beschwerdeführerin zu 1) aufgefordert, freiwillig mit dem Kind zurückzukehren. Der Vater habe damals angeboten, die Kosten für die Rückkehr zu tragen. Die Entscheidung des Oberlandesgerichts führe nicht zwangsläufig zu einer Trennung von Mutter und Kind. Es stehe vielmehr im Ermessen der Beschwerdeführerin zu 1), mit der Beschwerdeführerin zu 2) in die USA zurückzukehren. Eine derartige Rückkehr sei ihr auch zumutbar, da sie keine strafrechtlichen Sanktionen zu erwarten habe und er seine Bereitschaft erklärt habe, die Voraussetzungen für eine Rückkehr zu schaffen. Die starrsinnige Weigerung der Beschwerdeführerin zu 1), an den letzten gewöhnlichen Aufenthalt der Familie zurückzukehren, werde von der Verfassung nicht geschützt.

Das Oberlandesgericht habe keinesfalls den Sachvortrag der Beschwerdeführerin zu 1) über die Ungeeignetheit des Kindsvaters übergangen, sondern nach Anhörung eine Beweiswürdigung vorgenommen. In einem Verfahren nach dem HKÜ sei das Gericht wegen des Beschleunigungsgebotes keineswegs verpflichtet, sämtlichen Beweisangeboten der Parteien nachzugehen.

3. In ihrer Erwiderung bestreitet die Beschwerdeführerin zu 1), daß ihr im Falle der Einreise in die USA strafrechtliche Sanktionen nicht mehr drohten. Der Vater verhalte sich im übrigen doppelzüngig. Sein Angebot zur freiwilligen Rückkehr sei offenkundig ein Scheinangebot gewesen, wie sich aus der mit Nachdruck betriebenen Vollstreckung vor Ablauf der für die Rückkehr gesetzten Frist ergebe. Er habe sie offenbar nur in Sicherheit wiegen wollen, um überraschend zuschlagen zu können.

Der Vater wolle auch nicht ehrlich die wirtschaftliche Absicherung der Beschwerdeführerin zu 1) gewährleisten, wie sich daraus ergebe, daß er ihre sämtlichen Vermögenswerte in den USA habe sperren lassen, teilweise sogar schon an sich gebracht habe. Die Rückkehr der Beschwerdeführerinnen in die USA sei auch wegen der unterhaltsrechtlichen Situation unzumutbar. Da die Beschwerdeführerin zu 1) darauf angewiesen sei, ihren Lebensunterhalt durch vollschichtige Erwerbstätigkeit selbst zu verdienen, müsse die Beschwerdeführerin zu 2) in einer Kinderkrippe betreut werden, was bereits nach der Trennung der Eltern erhebliche gesundheitliche Probleme mit sich gebracht habe. Diese Situation würde für das Kind zu einer unerträglichen körperlichen und psychischen Belastung führen.

Wenn bei der Sorgerechtsentscheidung nach amerikanischem Recht allein das Wohl des Kindes ausschlaggebend sei, müsse zwangsläufig der Mutter das Sorgerecht übertragen werden. Der Vater könne und wolle unstreitig die Betreuung des Kindes nicht selbst übernehmen. Es sei nicht einsichtig, warum dann das zweijährige Kind aus seinem gesamten Lebensumfeld herausgerissen werden müsse.

4. Am 15. März 1995 erwirkte der Vater einen Beschluß des amerikanischen Gerichts, wonach der frühere Beschluß über den „safe harbor” wirksam bleibe. Ergänzend erklärte er an Eides Statt, daß in den USA kein Strafverfahren gegen die Beschwerdeführerin zu 1) anhängig sei und auch kein Haftbefehl bestehe. Er werde auch kein Strafverfahren in die Wege leiten und keinen Haftbefehl beantragen; die Beschwerdeführerin zu 1) könne sich in den USA frei bewegen.

5. Das Jugendamt hat dargelegt, daß die Beschwerdeführerin zu 1) originäre Bezugsperson der Beschwerdeführerin zu 2) sei. Der Anspruch auf Kontinuität der Erziehung sowie der Bestand der gewachsenen Beziehungen seien durch eine Rückführung gefährdet. Das Jugendamt hält es deshalb nicht für sinnvoll, eine Rückführung des Kindes vor einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über die Verfassungsbeschwerden zu veranlassen.

III.

Der Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung ist begründet.

1. Nach den §§ 32, 93 d Abs. 2 BVerfGG kann die Kammer im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus einem anderen wichtigen Grunde zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Dabei haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsaktes vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, die Verfassungsbeschwerde erwiese sich von vornherein als unzulässig oder offensichtlich unbegründet (BVerfGE 88, 25 ≪35≫; 89, 109 ≪110 f.≫).

Bei offenem Ausgang des Verfassungsbeschwerdeverfahrens muß das Bundesverfassungsgericht die Folgen, die eintreten würden, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde aber der Erfolg zu versagen wäre.

2. Die Verfassungsbeschwerden sind weder unzulässig noch offensichtlich unbegründet.

Sie werfen die Frage auf, inwieweit bei der Anwendung des Haager Übereinkommens im Einzelfall eine Gefährdung des Kindeswohls – und damit eine Beeinträchtigung des Grundrechts des Kindes aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG – im Hinblick auf das Vertragsziel, Kindesentführungen zu verhindern, hingenommen werden darf. Dieser Frage kommt insbesondere in Fällen besonderes Gewicht zu, in denen bei einem Kleinkind mit der Rückführung die Trennung von dem Elternteil verbunden ist, der es bis dahin ganz überwiegend betreut hat. In diesem Zusammenhang stellt sich auch die Frage, ob die Gerichte die Gründe ungeprüft lassen dürfen, die der entführende Elternteil für seine Weigerung nennt, in den früheren Aufenthaltsstaat zurückzukehren. In verfahrensrechtlicher Hinsicht wird zu prüfen sein, ob die gesamte Vortrags- und Beweislast für die Kindeswohlgesichtspunkte dem entführenden Elternteil aufgebürdet werden darf.

3. Die gebotene Folgenabwägung führt zum Erlaß der einstweiligen Anordnung.

a) Erginge die einstweilige Anordnung nicht, erwiesen sich die Verfassungsbeschwerden aber später als begründet, könnte durch die Rückführung der Tochter in die USA bereits ein schwerer seelischer Schaden entstanden sein. Wenn die Mutter sie nicht in die USA begleitet, würde die Beschwerdeführerin zu 2) im Falle ihrer zwangsweisen Rückführung von ihrer bisherigen Hauptbezugsperson getrennt, aus ihrem bisherigen Umfeld einschließlich des bisherigen Sprachraumes herausgerissen und ihr fremden Personen anvertraut. Hinzu käme, daß die Versorgung nicht mehr kontinuierlich durch einen Elternteil erfolgen, sondern überwiegend durch wechselnde Personen sichergestellt würde.

b) Erginge die einstweilige Anordnung, wiese das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsbeschwerden später aber als unbegründet zurück, so wögen die damit verbundenen Nachteile weniger schwer. Die Beschwerdeführerin zu 2) würde in diesem Fall nur einige Monate später in die USA zurückgebracht, da das Bundesverfassungsgericht um eine baldige Entscheidung bemüht sein wird. Es ist auch nicht zu befürchten, daß es in diesem begrenzten Zeitraum zu ins Gewicht fallenden negativen Auswirkungen bei der Durchsetzung des Haager Übereinkommens kommen könnte.

Daß es dem Vater noch einige Zeit erschwert ist, in dem früher gewohnten Umfang Kontakt zu seiner Tochter zu pflegen, wiegt gegenüber der drohenden Entwurzelung des Kindes weniger schwer.

 

Unterschriften

Seidl, Seibert, Jaeger

 

Fundstellen

Haufe-Index 1134551

IPRspr. 1995, 94

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