Tenor
Der Antragsgegner wird verpflichtet, bis zum Zeitpunkt einer etwaigen Anordnung des Bundespräsidenten, den 15. Deutschen Bundestag aufzulösen, die Zeugeneinvernahme entsprechend dem Programm des Terminierungsbeschlusses des 2. Untersuchungsausschusses vom 31. März 2005 und der Genehmigung einer Sondersitzung für den 23. Juni 2005 unverzüglich fortzuführen, es sei denn, dass eine Änderung dieses Programms einvernehmlich beschlossen wird.
Tatbestand
Der Senat hat die Begründung seiner Entscheidung gemäß § 32 Abs. 5 Satz 2 BVerfGG nach Bekanntgabe des Tenors des Beschlusses schriftlich niedergelegt.
A.
Die Antragsteller wenden sich mit ihrem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegen den Beschluss des Antragsgegners vom 2. Juni 2005, die am 31. März 2005 einvernehmlich beschlossenen Termine zur Zeugeneinvernahme für die Zeit nach dem 2. Juni 2005 auszusetzen und bereits geladene Zeugen abzuladen.
I.
1. Der 15. Deutsche Bundestag setzte am 17. Dezember 2004 den 2. Untersuchungsausschuss seiner Legislaturperiode – den so genannten „Visa-Untersuchungsausschuss” – ein. Der Untersuchungsausschuss soll im Wesentlichen aufklären, ob durch Erlasse, Weisungen oder Ähnliches der Bundesregierung und vor allem durch die Visaerteilungspraxis bestimmter Botschaften im Ausland gegen geltendes Recht verstoßen und der Kriminalität in Deutschland Vorschub geleistet wurde, wie sich etwaige Missstände entwickelt haben, ob es Hinweise darauf gab und ob die Bundesregierung für Missstände verantwortlich ist. Nach Aufnahme der Arbeit begann der Visa-Untersuchungsausschuss mit der Beweiserhebung, die unter anderem in der Vernehmung von Zeugen bestand.
2. a) Die Beweiserhebung durch Einvernahme weiterer Zeugen beschloss der 2. Untersuchungsausschuss einvernehmlich zuletzt in seiner 12. Sitzung am 31. März 2005. Danach sollten am 2., 9., 16., 22. und 30. Juni 2005 sowie am 8. Juli 2005 Zeugen vernommen werden. Auf Initiative der Ausschussmehrheit entsprach der Bundestagspräsident einem Antrag des Untersuchungsausschusses auf Terminierung einer Sondersitzung für den 23. Juni 2005.
b) Seit der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen am 22. Mai 2005 wird nach einer Absichtserklärung des Bundeskanzlers im politischen Raum die Möglichkeit erörtert, vor Ablauf der Legislaturperiode des 15. Deutschen Bundestages Neuwahlen herbeizuführen. Als möglicher Termin für vorgezogene Neuwahlen wird der 18. September 2005 genannt.
c) Im Rahmen einer Aktuellen Stunde befasste sich der Deutsche Bundestag am 1. Juni 2005 mit „den Absichten der Koalition, die Beweisaufnahme des 2. Untersuchungsausschusses – Visa – vorzeitig zu beenden”.
3. a) In der 23. Sitzung des Untersuchungsausschusses am 2. Juni 2005, der ersten Sitzung nach der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen, beantragten die Ausschussmitglieder der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen, der Ausschuss möge beschließen, die Termine der Zeugenvernehmungen am 9., 16., 22., 23. und 30. Juni 2005 sowie am 8. Juli 2005 aufzuheben und die Vernehmung weiterer Zeugen nach dem 2. Juni 2005 auszusetzen. Ferner solle das Ausschusssekretariat beauftragt werden, bis spätestens 29. Juli 2005 den Entwurf eines Sachstandsberichts vorzulegen.
b) In der Diskussion des Antrags in dieser Sitzung verwies die Ausschussmehrheit darauf, dass § 33 Abs. 3 des Gesetzes zur Regelung des Rechts der Untersuchungsausschüsse des Deutschen Bundestages (Untersuchungsausschussgesetz – PUAG) die Vorlage eines Sachstandsberichts verlange. Die Voraussetzungen der Vorschrift lägen vor, weil es hinreichend wahrscheinlich sei, dass der Untersuchungsausschuss nur noch bis September 2005 Zeit habe, seinen Bericht vorzulegen, da davon auszugehen sei, dass der Bundestag aufgelöst werde. Eine parallele Fortführung von Beweisaufnahme und Verfassen des Sachstandsberichts sei nach dem vom Sekretariat vorgelegten Bericht aus Kapazitätsgründen nicht möglich. Dagegen verwies die Einsetzungsminderheit darauf, dass das Ende der Wahlperiode weder rechtlich noch tatsächlich feststehe, so dass es auch nicht „absehbar” im Sinne des § 33 Abs. 3 PUAG sei, dass der Untersuchungsausschuss seinen Auftrag nicht vor Ablauf der Wahlperiode erledigen könne.
c) Mit den Stimmen der Ausschussmehrheit von SPD-Fraktion und der Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen beschloss der Untersuchungsausschuss antragsgemäß, die Termine zur Zeugenvernehmung aufzuheben und die Vernehmung weiterer Zeugen nach dem 2. Juni 2005 auszusetzen. Während der öffentlichen Sitzung am selben Tag lud das Sekretariat die für den 9. Juni 2005 geladenen Zeugen ab.
d) In einer am Abend des 2. Juni 2005 auf Antrag der Minderheit stattfindenden außerordentlichen Beratungssitzung des Untersuchungsausschusses stellte der CDU-Abgeordnete Eckart von Klaeden den Antrag, die Abladung der Zeugen rückgängig zu machen und diese erneut für den 9. Juni 2005 zu laden. Er hatte zuvor darauf verwiesen, dass die Ausschussminderheit um verfassungsgerichtlichen Rechtsschutz nachsuchen werde und erwarte, dass keine Maßnahmen ergriffen würden, die einer Entscheidung vorgreifen würden. Der Antrag, die Zeugen erneut zu laden, wurde mit den Stimmen der Mehrheit abgelehnt.
II.
Die Antragsteller machen geltend, sie würden durch den Beschluss, die weitere Beweisaufnahme auszusetzen, in ihren Rechten aus Art. 44 Abs. 1 GG verletzt.
1. Zur Zulässigkeit eines Antrages auf einstweiligen Rechtsschutz führen die Antragsteller im Wesentlichen aus, die Vorwegnahme der Hauptsache stünde einer Entscheidung im Wege der einstweiligen Anordnung nicht entgegen. Rechtsschutz im Hauptsacheverfahren käme in der Sache zu spät, wenn sich die Annahme des Antragsgegners bezüglich der baldigen Auflösung des Bundestages als richtig erweisen würde.
Dem Antrag fehle auch nicht das Rechtsschutzinteresse. Der Rechtsschutz zum Bundesgerichtshof trete nicht an die Stelle verfassungsgerichtlichen Rechtsschutzes im Organstreitverfahren.
2. Die Begründetheit des Antrages ergebe sich sowohl mit Blick auf die Erfolgsaussichten in der Hauptsache als auch unabhängig davon nach Maßgabe einer Interessenabwägung.
a) Da der Antrag in der Hauptsache offensichtlich begründet sei, müsse es zu einer Folgenabwägung nicht kommen. Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts habe in seiner Leitentscheidung zum Untersuchungsausschuss die entscheidenden Fragen zum Minderheitenrecht bereits geklärt. Dem aus Art. 44 Abs. 1 Satz 1 GG folgenden Anspruch darauf, dass den Beweisanträgen der Ausschussminderheit grundsätzlich Folge geleistet werde, laufe das Verhalten des Antragsgegners zuwider. Ein verfassungsgemäßes Durchführungshindernis oder eine verfassungsgemäße Einschränkung von Art. 44 GG durch die Regelungen des Untersuchungsausschussgesetzes bestünden nicht.
b) Auch im Modell der offenen Interessenabwägung müsse eine einstweilige Anordnung ergehen. Ansonsten verliere die Einsetzungsminderheit ihr verfassungsmäßiges Recht auf Aufklärung des Sachverhalts, obwohl der Deutsche Bundestag bis zur letzten zunächst terminierten Zeugenvernehmung noch Bestand haben werde. Minderheitenrechte müssten sich bis zum Ende einer Wahlperiode behaupten können. Demgegenüber würde dem Antragsgegner die Erstellung des Sachberichts zwar erschwert, aber nicht rechtlich oder tatsächlich unmöglich gemacht.
III.
Der Antragsgegner beantragt, den Antrag abzulehnen. Dieser sei unzulässig und unbegründet. Dazu führt der Antragsgegner im Wesentlichen aus, der Hauptantrag sei nicht nur unklar, vielmehr handele es sich nachgerade um einen „Nicht-Antrag”. Auch der Hilfsantrag sei unzulässig. Eine Vorwegnahme der Hauptsache komme zwar grundsätzlich in Betracht, müsse aber an der offensichtlichen Unzulässigkeit und Unbegründetheit der Hauptsache scheitern.
1. Der Rechtsweg zum Bundesverfassungsgericht stehe nicht offen, jedenfalls fehle diesbezüglich ein allgemeines Rechtsschutzbedürfnis. Da über die Auslegung des § 33 PUAG gestritten werde, sei eine Streitigkeit nach dem Untersuchungsausschussgesetz gegeben, für die der Rechtsweg zum Bundesgerichtshof führe. Auch komme eine Zuweisung an den Ermittlungsrichter nach § 17 Abs. 4 PUAG in Betracht. Das Untersuchungsausschussgesetz gehe von der Ausschließlichkeit des Rechtsweges zum Bundesgerichtshof aus. § 36 Abs. 1 PUAG erfasse nur Fälle, die wegen der Einzelfallzuweisung nicht zum Bundesgerichtshof gebracht werden können.
2. Die Antragsteller zu I. seien nur insoweit antragsbefugt, als es sich um die Abgeordneten handele, die an der konkreten Antragstellung mitgewirkt hätten. Die Antragstellerin zu III. sei gar nicht antragsbefugt, da eine Prozessstandschaft in diesem Falle abzulehnen sei.
3. Auch eine Rechtsgefährdung nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG, § 64 Abs. 1 BVerfGG könne nicht gegeben sein. Die Zeugenvernehmung sei nicht abgebrochen oder eingestellt, sondern nur vorläufig ausgesetzt worden. Träte das vorzeitige Ende der Legislaturperiode wider Erwarten nicht ein, würde die Zeugeneinvernahme weiter geführt.
4. Die Anträge seien unbegründet, da in der Notwendigkeit eines Berichts für das Bundestagsplenum ein Durchführungshindernis liege, welches das Beweisantragsrecht der Einsetzungsminderheit hindere. Der Bericht sei unmittelbarer Zweck des Untersuchungsausschusses; dieser müsse daher nicht nur hinreichend strukturiert werden, sondern mit der Möglichkeit einer Erörterung im Plenum des Deutschen Bundestages verbunden sein. Die Pflicht zur Vorlage eines entsprechenden Berichts ergebe sich nicht aus § 33 Abs. 3 PUAG, sondern unmittelbar aus Art. 44 Abs. 1 Satz 1 GG. Obwohl ein Sachstandsbericht gegenüber einem Abschlussbericht ein Minus sei, sei seine Erstellung nur mit erheblichem Arbeitsaufwand möglich, der die weitere Fortführung der Beweisaufnahme verbiete. In einer Folgenabwägung müsse das parlamentarische Recht der Selbstinformation schwerer wiegen als ein Interesse an der unverzüglichen Fortführung der vorläufig ausgesetzten Zeugeneinvernahme.
IV.
Dem Bundespräsidenten, dem Deutschen Bundestag, dem Bundesrat und der Bundesregierung wurde Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben.
Entscheidungsgründe
B.
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung, der als auf die im Beschlusstenor ausgesprochene Verpflichtung gerichtet zu verstehen ist, ist zulässig und begründet.
I.
1. Der Zulässigkeit eines Antrags auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 32 BVerfGG steht nicht entgegen, dass ein Antrag in der Hauptsache noch nicht gestellt wurde. Es ist nicht erforderlich, dass zum Zeitpunkt der Antragstellung im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes bereits ein Verfahren in der Hauptsache anhängig ist (vgl. BVerfGE 3, 267 ≪277≫; 7, 367 ≪371≫; 105, 235 ≪238≫; stRspr). Dies setzt allerdings voraus, dass nachfolgend ein Hauptsacheantrag gestellt werden könnte, der nicht von vornherein unzulässig oder offensichtlich unbegründet wäre (BVerfGE 66, 39 ≪56≫; Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 7. September 1987 – 2 BvR 16/87 –, NJW 1987, S. 3245 f.). Dies ist hier nicht der Fall.
2. Antragsteller und Antragsgegner sind im Verfahren der einstweiligen Anordnung parteifähig, da sie im Organstreitverfahren im Sinne des § 63 BVerfGG parteifähig wären. Nach § 63 BVerfGG können auch Teile der dort benannten Verfassungsorgane Antragsteller im Organstreit sein, wenn sie im Grundgesetz oder in den Geschäftsordnungen mit eigenen Rechten ausgestattet sind.
a) Die Antragsteller zu I. sind parteifähig. Die so genannte qualifizierte Minderheit der Mitglieder des Deutschen Bundestages ist in Art. 44 GG mit eigenen Rechten ausgestattet.
b) Die Antragstellerin zu II. ist als „Fraktion im Untersuchungsausschuss” als Organteil des Deutschen Bundestages im Sinne des § 63 BVerfGG zu behandeln (vgl. BVerfGE 67, 100 ≪124≫). Der Untersuchungsausschuss ist ein gemäß Art. 44 GG mit besonderen Rechten ausgestattetes Hilfsorgan des Deutschen Bundestages.
c) Die Antragstellerin zu III. ist als ständig vorhandene Gliederung des Deutschen Bundestages ebenfalls parteifähig (vgl. BVerfGE 20, 56 ≪104≫; 45, 1 ≪28≫; stRspr). Dies gilt auch für Organklagen, in denen die Fraktion in Prozessstandschaft für das Gesamtparlament tritt, um im eigenen Namen Rechte geltend zu machen, die dem Deutschen Bundestag gegenüber einem möglichen Antragsgegner zustehen könnten (vgl. BVerfGE 2, 143 ≪165≫; 90, 286 ≪336≫; 100, 266 ≪268≫; 103, 81 ≪86≫; 104, 151 ≪193≫).
d) Der Antragsgegner ist ein gemäß Art. 44 GG mit eigenen Rechten ausgestattetes Hilfsorgan des Deutschen Bundestages. Der Bundestag kann von Verfassungs wegen als Plenum diese besonderen Befugnisse nicht selbst wahrnehmen (vgl. BVerfGE 67, 100 ≪124≫; 105, 197 ≪220≫). Die Antragsteller können aus diesem Grund Rechte im parlamentarischen Untersuchungsverfahren nur gegenüber dem Ausschuss geltend machen, der die beanstandete Maßnahme – hier den Beschluss, die Termine aufzuheben und die Zeugen abzuladen – selbst verantwortet (vgl. BVerfGE 105, 197 ≪220≫).
3. Die Antragsteller sind im Verfahren der einstweiligen Anordnung antragsbefugt, da sie in der Hauptsache im Sinne des § 64 Abs. 1 BVerfGG antragsbefugt wären. Sie haben die Verletzung in eigenen Rechten hinreichend dargelegt.
Die Rechte der einsetzungsberechtigten und insofern qualifizierten Minderheit nach Art. 44 GG beschränken sich nicht auf das Recht auf Einsetzung eines Untersuchungsausschusses. Damit das Kontrollrecht ausgeübt werden kann, treten weitere Mitbestimmungsrechte in Bezug auf die Arbeit des Untersuchungsausschusses hinzu (vgl. BVerfGE 49, 70 ≪85 f.≫). Der Senat hat entschieden, dass sowohl der konkret als Einsetzungsminderheit in Erscheinung getretenen Fraktion als auch der potentiell einsetzungsberechtigten Minderheit bestimmte Rechte zur Sicherung der Durchführung des Untersuchungsauftrags zustehen (vgl. BVerfGE 105, 197 ≪220≫).
Auch die Abgeordneten einer Fraktion im Ausschuss können sich auf die von Art. 44 GG erfassten Minderheitenrechte berufen, um die Antragsbefugnis im Organstreitverfahren darzulegen. Die in den Untersuchungsausschuss entsandten Abgeordneten einer Fraktion, die mindestens ein Viertel der Mitglieder des Deutschen Bundestages umfasst, repräsentieren den einsetzungsberechtigten Teil des Deutschen Bundestages im Ausschuss jedenfalls so lange, wie kein Dissens zwischen der Fraktion und ihren Vertretern im Ausschuss erkennbar ist (vgl. BVerfGE 105, 197 ≪220 f.≫).
Eine Fraktion ist im Organstreitverfahren und damit auch im Verfahren der einstweiligen Anordnung antragsbefugt, soweit sie – wie hier als Antragstellerin zu III. – prozessstandschaftlich die Rechte des Gesamtparlaments in eigenem Namen geltend zu machen beabsichtigt (vgl. BVerfGE 45, 1 ≪28≫; 105, 197 ≪220≫). Zur Antragsbefugnis einer Fraktion, die für den Bundestag prozessstandschaftlich Rechte im eigenen Namen wahrzunehmen beabsichtigt, hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt, dass das Untersuchungsrecht aus Art. 44 Abs. 1 GG auch nach der Einsetzung des Untersuchungsausschusses Sache des Parlaments als Ganzes bleibt, das sich des Ausschusses zur sachgerechten Erfüllung dieser Aufgabe bedient (vgl. BVerfGE 49, 70 ≪85≫; 67, 100 ≪125≫; 83, 175 ≪180≫; 105, 197 ≪220≫). Es kann offen bleiben, wie weit die Rechte der Antragstellerin zu III., die zwar keine einsetzungsberechtigte Minderheit verkörpert, sich das Anliegen einer solchen aber zu eigen macht, im Einzelnen reichen. Es ist jedenfalls nicht ausgeschlossen, dass die nicht einvernehmliche Beendigung der beschlossenen Beweisaufnahme eines Untersuchungsausschusses auch Rechte der nicht einsetzungsberechtigten Minderheit verletzt.
4. Der Antrag ist auch zulässig, obwohl er auf eine Maßnahme gerichtet ist, die die Entscheidung in der – bisher nicht anhängigen – Hauptsache im Wesentlichen vorwegnimmt. Die Vorwegnahme der Hauptsache führt dann nicht zur Unzulässigkeit des Antrages, wenn eine Entscheidung in der Hauptsache zu spät kommen würde und dem Antragsteller in anderer Weise ausreichender Rechtsschutz nicht mehr gewährt werden kann (vgl. BVerfGE 34, 160 ≪162 f.≫; 67, 149 ≪151≫; stRspr). Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung betrifft die Umsetzung eines Terminierungsbeschlusses für mehrere Termine im Juni sowie für einen weiteren Termin am 8. Juli 2005. Der Beschluss droht sich durch Zeitablauf zu erledigen. Auf der Grundlage des bestehenden Beschlusses sind verstrichene Termine auch nicht nachholbar, so dass ohne die Möglichkeit anderweitigen Rechtsschutzes eine Entscheidung in der Hauptsache zu spät kommen müsste.
5. Die allgemeine Subsidiarität des Verfassungsprozesses steht dem Rechtsschutzbedürfnis der Antragsteller nicht entgegen. Das Bundesverfassungsgericht ist für die Entscheidung über die Streitigkeit allein zuständig, ohne dass die Antragsteller zunächst den Bundesgerichtshof hätten anrufen müssen.
Die Zuständigkeit des Bundesgerichtshofs nach § 36 Abs. 1 PUAG gilt nur für Streitigkeiten nach diesem Gesetz. Darum handelt es sich bei der vorliegenden Streitigkeit nicht. Die vorzeitige Beendigung der Ausschussarbeit durch Beschluss wird von diesem Gesetz nicht erfasst. Auch § 33 Abs. 3 PUAG, der die Berichterstattung in dem Fall regelt, dass ein Untersuchungsausschuss seinen Auftrag absehbar nicht mehr vor Ablauf der Wahlperiode erledigen kann, behandelt nicht unmittelbar die Frage der vorzeitigen Beendigung und Aussetzung eines bereits beschlossenen Arbeitsprogramms zur weiteren Beweisaufnahme durch Zeugeneinvernahme. Es geht um den Umfang und den Inhalt der Rechte vor allem der einsetzungsberechtigten Minderheit aus Art. 44 Abs. 1 GG. Berührt eine solche verfassungsrechtliche Frage zugleich die Auslegung einer Norm des Untersuchungsausschussgesetzes, so ändert das nichts am verfassungsrechtlichen Charakter der Auslegungsfrage, die im Organstreitverfahren gestellt wird (Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG). Die Beteiligten streiten auch nicht um die Rechtzeitigkeit und den Umfang des Sachstandsberichts nach § 33 Abs. 3 PUAG; vielmehr nimmt der Antragsgegner die Regelung über die Berichterstattung, die er selbst als verfassungsgeboten ansieht, lediglich zum Anlass, die Arbeit des Untersuchungsausschusses vorläufig einzustellen.
Die Auslegung des Verfassungsrechts ist nicht mit der dem Bundesgerichtshof zugewiesenen verfahrensrechtlichen Überprüfung der Ausschussarbeit im Einzelnen, zum Beispiel bezüglich der Erhebung bestimmter Beweise, der Verlesung von Schriftstücken oder der Herausgabepflicht von Gegenständen, identisch. Es geht dabei nicht um eine dem Ablauf eines Strafprozesses vergleichbare Ordnung des Untersuchungsverfahrens im engeren Sinne, sondern um die Vereinbarkeit einer Maßnahme mit Verfassungsrecht.
Eine verfassungsrechtliche Kompetenz hat das Untersuchungsausschussgesetz dem Bundesgerichtshof nicht zugewiesen. Das ergibt sich aus dem verfahrensrechtlichen Vorbehalt des § 36 Abs. 1 PUAG, welcher hier in Gestalt des Organstreitverfahrens durchgreift, ebenso wie aus der Vorlagepflicht an das Bundesverfassungsgericht bei Zweifeln an der Verfassungsmäßigkeit des Einsetzungsbeschlusses nach § 36 Abs. 2 PUAG.
Die Antragsteller haben geltend gemacht, ihrem Anspruch auf Fortsetzung der Zeugeneinvernahme stehe eine verfassungskonforme Einschränkung durch das Untersuchungsausschussgesetz nicht entgegen. Sie machen damit kein im Untersuchungsausschussgesetz ausdrücklich oder implizit geregeltes oder mit dem Untersuchungsausschussgesetz zumindest vereinbares Recht geltend, sondern einen Anspruch, der sich unabhängig von der einfachgesetzlichen Rechtslage unmittelbar aus Art. 44 Abs. 1 GG ergeben soll.
II.
1. Bei der Entscheidung über den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung müssen die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit der angegriffenen Maßnahme sprechen, außer Betracht bleiben, es sei denn, der Antrag in der Hauptsache erwiese sich als von vornherein unzulässig oder doch offensichtlich unbegründet.
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist jedoch nur begründet, wenn eine vorläufige Regelung zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist (vgl. BVerfGE 71, 158 ≪161≫). Für eine einstweilige Anordnung ist kein Raum, wenn das Bundesverfassungsgericht die Hauptsache so rechtzeitig zu entscheiden vermag, dass hierdurch die absehbaren Nachteile vermieden werden können.
Der Erlass einer einstweiligen Anordnung im Organstreitverfahren ist ein Eingriff des Bundesverfassungsgerichts in die Autonomie eines anderen Verfassungsorgans. Bei der Prüfung der Voraussetzungen des § 32 BVerfGG ist deshalb grundsätzlich ein strenger Maßstab anzulegen (vgl. BVerfGE 104, 23 ≪27≫; 106, 51 ≪58≫). Der Erlass kann allein der vorläufigen Sicherung des strittigen organschaftlichen Rechts der Antragsteller dienen, damit es nicht im Zeitraum bis zur Entscheidung der Hauptsache durch vollendete Tatsachen überspielt wird (vgl. BVerfGE 89, 38 ≪44≫; 96, 223 ≪229≫; 98, 139 ≪144≫).
Ist der Antrag in der Hauptsache weder unzulässig noch offensichtlich unbegründet, so wägt das Bundesverfassungsgericht die Nachteile, die einträten, wenn die einstweilige Anordnung nicht erginge, die Maßnahme aber später für verfassungswidrig erklärt würde, gegen diejenigen Nachteile ab, die entstünden, wenn die Maßnahme nicht in Kraft träte, sie sich aber im Hauptsacheverfahren als verfassungsgemäß erwiese (vgl. BVerfGE 86, 390 ≪395≫; 88, 173 ≪179 f.≫; 99, 57 ≪66≫; 104, 23 ≪28 f.≫; stRspr).
2. a) Bedenken gegen die Zulässigkeit eines Organstreitverfahrens in der Hauptsache, die über die im Rahmen der Zulässigkeit des Antrages auf Erlass einer einstweiligen Anordnung erörterten Fragestellungen hinausgehen, bestehen nicht.
b) Ein Antrag in der Hauptsache wäre auch nicht offensichtlich unbegründet.
Das Untersuchungsausschussgesetz regelt den Fall, dass die Mehrheit im Untersuchungsausschuss die Arbeit des Ausschusses trotz bestehender Terminierung weiterer Zeugeneinvernahme beendet oder auf unabsehbare Zeit aussetzt, nicht. Welche Rechte der Minderheit gegen Mehrheitsbeschlüsse bezüglich der Beendigung oder Aussetzung der Beweisaufnahme in einem Untersuchungsverfahren zustehen, wenn im politischen Raum die Auflösung des Bundestages angestrebt wird, bleibt damit eine Frage der Auslegung des Art. 44 Abs. 1 GG. Die Rechte, die im Untersuchungsausschussverfahren für die qualifizierte Minderheit aus Art. 44 GG folgen, sind bereits Gegenstand verfassungsgerichtlicher Entscheidungen gewesen. Es besteht aber noch Klärungsbedarf, wie sich diese Rechte in der vorliegenden Konstellation auswirken.
3. a) Wenn dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung stattgegeben würde, die Hauptsache aber keinen Erfolg hätte, würde dies dazu führen, dass das Arbeitsprogramm des Visa-Untersuchungsausschusses entgegen einem rechtmäßigen Beschluss über die Beendigung der Zeugeneinvernahme gleichwohl fortgeführt würde. Im Ergebnis würden weitere Zeugen vernommen, obwohl diese nicht mehr gehört werden müssten. Dadurch könnte die Erstellung eines Sachstandsberichts erschwert oder verzögert werden und die Notwendigkeit von Abstrichen hinsichtlich der Ausführlichkeit des Berichts entstehen.
Dem gegenüber wäre bei einer Ablehnung des Antrages auf Erlass einer einstweiligen Anordnung und späterer Stattgabe in der Hauptsache das bereits beschlossene Arbeitsprogramm, wie es sich im Terminierungsbeschluss vom 31. März 2005 niederschlägt, in rechtswidriger Weise vorzeitig beendet oder auf unabsehbare Zeit ausgesetzt worden, so dass Zeugen an den besagten Terminen nicht gehört worden wären und möglicherweise auch später nicht mehr gehört werden könnten, obwohl sie hätten gehört werden müssen.
b) Das Interesse der Antragsteller an der Fortführung des beschlossenen Arbeitsprogramms des Visa-Untersuchungsausschusses entgegen einem Aussetzungsbeschluss der Ausschussmehrheit ist grundsätzlich schutzwürdig, weil die besonderen Schutzrechte für die qualifizierte Minderheit im Untersuchungsausschussrecht sonst leerlaufen könnten, ohne dass im Rahmen einer einstweiligen Anordnung bereits darüber entschieden werden müsste, wie weit die aus Art. 44 GG folgenden Minderheitenrechte im vorliegenden Fall im Einzelnen gehen. Es besteht ein grundsätzliches Interesse der Einsetzungsminderheit, dass die Arbeit des Ausschusses so lange fortgeführt wird, bis der Untersuchungsauftrag abgeschlossen ist oder sich die Anzeichen dafür konkretisieren, dass der Untersuchungsauftrag nicht bis zu einem regulären oder vorzeitigen Ende der Wahlperiode erledigt werden kann.
c) Dem gegenüber steht das Interesse des Antragsgegners daran, dem Deutschen Bundestag rechtzeitig vor Ablauf der Legislaturperiode einen Sachstandsbericht vorzulegen. Die grundsätzliche Schutzwürdigkeit eines entsprechenden Interesses ergibt sich aus der in § 33 Abs. 3 PUAG konkretisierten Pflicht, einen derartigen Bericht zur Information des Deutschen Bundestages über den Stand der Untersuchungsergebnisse vorzulegen.
4. a) Die Schutzwürdigkeit der Interessen des Antragsgegners ist derzeit nur als gering zu veranschlagen. Nachteile, die schützenswerte Interessen des Antragsgegners fühlbar beeinträchtigen, können zum gegenwärtigen Zeitpunkt nämlich nur entstehen, wenn die Wahlperiode des 15. Deutschen Bundestages vorzeitig enden sollte. Die Entscheidung über eine vorzeitige Beendigung hängt indes, da das deutsche Verfassungsrecht ein Selbstauflösungsrecht des Deutschen Bundestages nicht kennt, von Faktoren ab, deren Eintreten gegenwärtig nicht prognostiziert werden kann. Die Voraussetzungen für mögliche Neuwahlen verdichten sich in einer rechtlich bedeutsamen Weise in einem ersten Schritt erst dann, wenn die Mehrheit der Mitglieder des Deutschen Bundestages einem Antrag des Bundeskanzlers, ihm das Vertrauen auszusprechen, nicht zustimmen sollte (Art. 68 GG). Es liegt sodann allein in der Entscheidung des Bundespräsidenten, der in eigener Verantwortung auch rechtliche Fragen zu prüfen hat, ob er den Deutschen Bundestag auflöst oder nicht.
Auch wenn man schon jetzt annähme, dass der Deutsche Bundestag aufgelöst wird und eine Neuwahl in der zweiten Septemberhälfte oder später stattfindet, wäre angesichts dessen, dass die parlamentarische Sommerpause am 5. September 2005 endet, immer noch Zeit, den Sachstand oder gar einen Abschlussbericht dem Plenum vorzulegen. Soweit der Antragsgegner auf Umfang und Zeitbedarf für die Berichterstattung bei früheren Untersuchungsausschüssen verweist, betreffen diese Beispiele keinen Sachstandsbericht wegen der vorzeitigen Auflösung des Deutschen Bundestages. Im Hinblick auf Zeitbedarf und Umfang eines Sachstandsberichts in diesen Fällen ist auch zu berücksichtigen, dass es vergleichbare Situationen gibt, in denen innerhalb kurzer Frist dem Deutschen Bundestag ein Sachstandsbericht über den bisherigen Gang des Verfahrens sowie über das bisherige Ergebnis der Untersuchungen vorzulegen ist (zum Beispiel erfolgreiche Wahlprüfungsverfahren).
Zwingende oder jedenfalls gewichtige Gründe, sofort und ohne Übergang noch im Juni des Jahres die in der Sache unstreitige Beweisaufnahme abzubrechen, sind nicht ersichtlich. Schließlich ist es dem Ausschuss unbenommen, bereits einen Sachstandsbericht vorzubereiten, in den die noch ausstehenden wenigen Zeugenvernehmungen bis 8. Juli 2005 eingearbeitet werden.
b) Die Nachteile hingegen, die entstünden, wenn eine einstweilige Anordnung, die die Interessen der Antragsteller vorläufig sichert, nicht ergeht, sich die Hauptsache später aber als begründet erweist, wiegen so schwer, dass der Erlass einer vorläufigen Regelung geboten ist.
Der unerwartete Verlust von Beweismitteln, die aus der Sicht der Antragsteller für die Aufklärung des Untersuchungsthemas von Bedeutung sind, würde dem Zweck des parlamentarischen Untersuchungsrechts zuwiderlaufen und die Rechte der Antragsteller in schwerwiegender Weise verletzen. Dabei ist es weder Sache des Gerichts noch der Ausschussmehrheit, über die Notwendigkeit noch ausstehender Zeugenbefragungen zu urteilen. Denn dies ist, wie der Senat klargestellt hat (vgl. BVerfGE 105, 197 ≪225≫), bis zu den Grenzen des Missbrauchs Sache der einsetzungsberechtigten Minderheit.
Unterschriften
Hassemer, Jentsch, Broß, Osterloh, Di Fabio, Mellinghoff, Lübbe-Wolff, Gerhardt
Fundstellen
Haufe-Index 1381730 |
BVerfGE 2006, 113 |
NJW 2005, 2537 |
DÖV 2005, 823 |
JuS 2005, 1033 |
DVBl. 2005, 1038 |
LL 2005, 769 |