Verfahrensgang

OLG Dresden (Beschluss vom 23.07.2012; Aktenzeichen 20 UF 770/08)

 

Tenor

1. Der Beschluss des Oberlandesgerichts Dresden vom 23. Juli 2012 – 20 UF 770/08 – verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Artikel 6 Absatz 2 Satz 1 des Grundgesetzes.

Der Beschluss des Oberlandesgerichts Dresden wird aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung an einen anderen Senat für Familiensachen des Oberlandesgerichts Dresden zurückverwiesen.

2. Der Freistaat Sachsen hat der Beschwerdeführerin ihre notwendigen Auslagen im Verfassungsbeschwerdeverfahren zu erstatten.

3. Der Gegenstandswert der anwaltlichen Tätigkeit wird für das Verfassungsbeschwerdeverfahren auf 8.000 EUR (in Worten: achttausend Euro) und für das Verfahren über den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung auf 4.000 EUR (in Worten: viertausend Euro) festgesetzt.

4. Dem Antragsgegner und Beschwerdeführer des Ausgangsverfahrens wird für das verfassungsgerichtliche Verfahren Prozesskostenhilfe bewilligt. Er hat keine Raten zu zahlen. Ihm wird Rechtsanwältin T. beigeordnet.

 

Tatbestand

I.

Die Beschwerdeführerin wendet sich gegen die Anordnung von Umgangskontakten ihrer drei Söhne mit dem Kindesvater.

1. Aus der Ehe der Kindeseltern sind drei gemeinsame Kinder hervorgegangen, die in den Jahren 2000, 2001 und 2004 geboren wurden. Seit der Trennung der Kindeseltern im April 2004 leben die Kinder bei der Kindesmutter. Seit Dezember 2004 hat der Kindesvater mit seinen Kindern keinen Umgang mehr. Durch Beschluss des Amtsgerichts wurde die elterliche Sorge für die Kinder auf die Kindesmutter übertragen. Zugleich wurde eine Umgangsvereinbarung getroffen, die allerdings von der Beschwerdeführerin nicht umgesetzt wurde. Der Kindesvater ist in der rechtsradikalen Szene aktiv. Die Beschwerdeführerin war hier ebenfalls engagiert, hat sich aber im Januar 2005 abgewandt und an einem Aussteigerprogramm teilgenommen. Sie hat ihren Namen und die Namen ihrer Kinder ändern lassen und hat mehrfach ihren Wohnsitz gewechselt.

a) Durch Urteil des Amtsgerichts vom 5. November 2008 wurde die Ehe der Kindeseltern geschieden und der Versorgungsausgleich durchgeführt. Ferner wurde das Umgangsrecht des Kindesvaters mit den Kindern bis zum 31. Dezember 2009 ausgeschlossen.

b) Auf die Beschwerde des Kindesvaters wurde durch Beschluss des Oberlandesgerichts vom 23. Juli 2012 nach Einholung eines Sachverständigengutachtens das Urteil des Amtsgerichts dahingehend abgeändert, dass dem Kindesvater jeden ersten Samstag im Monat, beginnend am 6. Oktober 2012, für die Dauer von zwei Stunden begleiteter Umgang mit seinen Kindern gewährt und zur Sicherstellung der Durchführung des Umgangs Umgangspflegschaft angeordnet wurde.

Es entspreche unter Wahrung der Grundrechtspositionen der Eltern dem Wohl der Kinder, dem Kindesvater Umgang zu gewähren. Die Voraussetzungen für einen Umgangsausschluss lägen nicht vor. Der Senat könne nicht feststellen, dass bei einem Umgang der Kinder mit ihrem Vater zu befürchten wäre, dass seine Kinder oder die Mutter der Kinder Angriffen aus der rechtsradikalen Szene ausgesetzt wären, die eine Gefährdung des Wohls der Kinder oder auch der Kindesmutter bedeuten würden. Insbesondere die von der Kindesmutter vorgelegten und vom Senat eingeholten Auskünfte der Polizei- und Verfassungsschutzbehörden ließen eine konkrete Gefährdung der Kindesmutter und ihrer Kinder nicht erkennen.

In einem Schreiben des Landeskriminalamts Niedersachsen vom 19. April 2007 werde lediglich mitgeteilt, dass eine erhebliche Gefahr bestehe, dass der Kindesvater die Kindesmutter an ihrem Wohnort ausfindig mache, um „Einfluss auf die weitere Lebensführung zu nehmen”. Konkrete Szenarien für Repressalien, welche die Kindesmutter oder ihre Kinder zu befürchten hätten, würden nicht verdeutlicht. Das Landesamt für Verfassungsschutz Sachsen verweise in seiner Stellungnahme vom 26. April 2007 lediglich darauf, dass bei Bekanntwerden des Aufenthaltsorts der Kindesmutter für diese die „abstrakte Gefahr” bestehe, erheblich erhöhtem körperlichen und seelischen Druck ausgesetzt zu sein.

Angesichts des Umstands, dass sich die geschilderten abstrakten Gefahren in den vergangenen fünf Jahren nicht konkretisiert hätten, obwohl zwischenzeitlich der Aufenthaltsort der Kindesmutter vorübergehend bekannt geworden sei, habe der Senat Zweifel, dass sie sich in Zukunft noch realisieren könnten. Auch das Landeskriminalamt Niedersachsen habe in seiner Stellungnahme vom 21. April 2009 mitgeteilt, dass konkrete Gefährdungserkenntnisse derzeit nicht vorlägen und die Gefahrenlage als gering einzuschätzen sei.

Die Beschwerdeführerin habe keine konkreten, aktuell bestehenden Gefahren beschrieben. Allein aus der behördlichen Änderung des Namens der Beschwerdeführerin und ihrer Kinder ergebe sich keine konkrete Gefahrenlage. Eine solche sei auch nicht den vom Senat beigezogenen Akten des Namensänderungsverfahrens zu entnehmen.

Andere Gründe stünden der Gewährung von Umgang in dem vom Senat angeordneten Umfang jedenfalls dann nicht entgegen, wenn ein Umgangspfleger die Ausübung des Umgangs überwache. Körperliche Übergriffe des Kindesvaters auf seine Kinder seien nicht zu erwarten. Der von den Kindern (zum Teil) geäußerte Wille, keinen Umgang haben zu wollen, rechtfertige den Ausschluss des Umgangs nicht. Es sei vielmehr davon auszugehen, dass ein – zunächst zeitlich geringer – Umgang sich auf das Wohl der Kinder eher förderlich auswirken werde. Die körperliche und psychische Verfassung der Kinder rechtfertige ebenfalls keinen Umgangsausschluss. Zwar litten alle Kinder an einer tiefgreifenden Entwicklungsstörung aus dem autistischen Formenkreis und seien wenig belastbar. Aus den vorliegenden ärztlichen Stellungnahmen sei jedoch nicht abzuleiten, dass ein Umgang – jedenfalls ein zeitlich geringer und zunächst begleiteter – das Wohl der Kinder gefährden würde.

2. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin eine Verletzung ihres Elternrechts aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG durch die angegriffene Entscheidung.

Das Oberlandesgericht verneine zu Unrecht eine Gefährdung der Beschwerdeführerin und ihrer Kinder und verletze dadurch das Elternrecht der Beschwerdeführerin. Die Beschwerdeführerin habe im Einzelnen dargelegt, woraus sich eine Gefährdung ihrer Person und der Kinder durch den Kindesvater ergebe und dass dieser nichts unversucht lasse, um deren Aufenthaltsort zu ermitteln. Würde ihr Aufenthaltsort bekannt, wären Racheakte der rechten Szene zu befürchten.

Die Ausgestaltung der Umgangsregelung des Oberlandesgerichts gefährde ebenfalls die Sicherheit der Beschwerdeführerin und ihrer Kinder. Dass die Beschwerdeführerin ihre Kinder zum Umgangspfleger oder dem vom Umgangspfleger bestimmten Ort zu bringen habe, begründe die Gefahr, dass sie hierbei beobachtet und somit ihr Aufenthaltsort ermittelt werde. Im Rahmen des Umgangs sei zu befürchten, dass der Kindesvater den Wohnort der Kinder erfahre oder jedenfalls aus den Angaben der Kinder ermitteln könne, beispielsweise aus Äußerungen über ihren Alltag, ihre Hobbys und wo sie zur Schule gingen. Dies lasse sich auch durch eine Umgangsbegleitung nicht wirksam verhindern.

Vor dem Hintergrund bereits bestehender Entwicklungs- und Anpassungsstörungen benötigten zudem alle drei Kinder Schutz vor erneuter Unruhe in ihrem Leben, vor weiteren Angst auslösenden Situationen und gegebenenfalls weiterer Umorientierung durch Wohnungs- und Schulwechsel.

3. Mit Beschluss vom 29. August 2012 hat das Bundesverfassungsgericht im Wege einer einstweiligen Anordnung die Wirksamkeit des Beschlusses des Oberlandesgerichts vom 23. Juli 2012 bis zur Entscheidung in der Hauptsache, längstens bis zum 30. November 2012, ausgesetzt. Mit Beschluss vom 26. November 2012 wurde die einstweilige Anordnung bis zum 31. Januar 2013, längstens bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde, wiederholt.

4. Die Verfassungsbeschwerde wurde der Regierung des Freistaats Sachsen, dem Kindesvater, dem Jugendamt und dem Verfahrenspfleger der Kinder zugestellt. Die Landesregierung Sachsen und das Jugendamt haben keine Stellungnahme abgegeben. Der Kindesvater und der Verfahrenspfleger haben sich den Gründen der angegriffenen Entscheidung angeschlossen.

5. Die Akte des Ausgangsverfahrens und dort beigezogene Akten lagen der Kammer vor.

 

Entscheidungsgründe

II.

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt.

1. Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist zur Durchsetzung des Elternrechts der Beschwerdeführerin geboten (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Zu dieser Entscheidung ist die Kammer berufen, weil die maßgeblichen verfassungs-rechtlichen Fragen durch das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden sind und die Verfassungsbeschwerde offensichtlich zulässig und begründet ist (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).

a) Die Beschwerdeführerin wird durch die angegriffene Entscheidung in ihrem Grundrecht aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG verletzt.

aa) Das Umgangsrecht eines Elternteils steht allerdings ebenso wie die elterliche Sorge des anderen Elternteils unter dem Schutz des Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG. Beide Rechtspositionen erwachsen aus dem natürlichen Elternrecht und der damit verbundenen Elternverantwortung und müssen von den Eltern im Verhältnis zueinander respektiert werden. Der Elternteil, bei dem sich das Kind gewöhnlich aufhält, muss demgemäß grundsätzlich den persönlichen Umgang des Kindes mit dem anderen Elternteil ermöglichen (vgl. BVerfGE 31, 194 ≪206 f.≫). Das Umgangsrecht ermöglicht dem umgangsberechtigten Elternteil, sich von dem körperlichen und geistigen Befinden des Kindes und seiner Entwicklung durch Augenschein und gegenseitige Aussprache fortlaufend zu überzeugen, die verwandtschaftlichen Beziehungen zu ihm aufrechtzuerhalten und einer Entfremdung vorzubeugen, sowie dem Liebesbedürfnis beider Teile Rechnung zu tragen (vgl. BVerfGE 31, 194 ≪206≫). Können sich Eltern über die Ausübung des Umgangsrechts nicht einigen, haben die Gerichte eine Entscheidung zu treffen, die sowohl die beiderseitigen Grundrechtspositionen der Eltern als auch das Wohl des Kindes und dessen Individualität als Grundrechtsträger berücksichtigt (vgl. BVerfGE 64, 180 ≪188≫). Die Gerichte müssen sich daher im Einzelfall um eine Konkordanz der verschiedenen Grundrechte bemühen (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 18. Februar 1993 – 1 BvR 692/92 – juris, Rn. 10). Eine Einschränkung oder ein Ausschluss des Umgangsrechts ist dann veranlasst, wenn nach den Umständen des Einzelfalls der Schutz des Kindes dies erfordert, um eine Gefährdung seiner seelischen oder körperlichen Entwicklung abzuwehren (vgl. BVerfGE 31, 194 ≪209 f.≫).

Dabei ist Grundrechtsschutz auch durch die Gestaltung des Verfahrens sicherzustellen (vgl. BVerfGE 55, 171 ≪182≫); das gerichtliche Verfahren muss in seiner Ausgestaltung geeignet und angemessen sein, um der Durchsetzung der materiellen Grundrechtspositionen wirkungsvoll zu dienen (vgl. BVerfGE 84, 34 ≪49≫). Diesen Anforderungen werden die Gerichte nur gerecht, wenn sie sich mit den Besonderheiten des Einzelfalls auseinandersetzen, die Interessen der Eltern sowie deren Einstellung und Persönlichkeit würdigen und auf die Belange des Kindes eingehen (vgl. BVerfGE 31, 194 ≪210≫). Sofern der Wille des Kindes für die Entscheidung von Bedeutung ist, muss das Kind in dem gerichtlichen Verfahren die Möglichkeit erhalten, seine persönlichen Beziehungen zu den Eltern erkennbar werden zu lassen. Die Gerichte müssen ihr Verfahren deshalb so gestalten, dass sie möglichst zuverlässig die Grundlage einer am Kindeswohl orientierten Entscheidung erkennen können (vgl. BVerfGE 55, 171 ≪182≫; 64, 180 ≪191≫).

Die von den Fachgerichten getroffenen tatsächlichen Feststellungen und die von ihnen im Einzelnen vorgenommene Abwägung prüft das Bundesverfassungsgericht grundsätzlich nicht nach. Der verfassungsgerichtlichen Prüfung unterliegt jedoch, ob fachgerichtliche Entscheidungen auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung und Tragweite eines Grundrechts beruhen (vgl. BVerfGE 18, 85 ≪92 f.≫). Die Intensität dieser Prüfung hängt davon ab, in welchem Maße von der Entscheidung Grundrechte beeinträchtigt werden (vgl. BVerfGE 83, 130 ≪145≫ m.w.N.).

bb) Das Oberlandesgericht ist den Anforderungen des Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG angesichts des Ausmaßes der dem Kindeswohl durch die Umgangsregelung drohenden Gefahren nicht gerecht geworden.

(1) Es hat bei der Entscheidung über die Ausübung des Umgangsrechts nach § 1684 BGB dem mit dem Wohl der Kinder in engem Zusammenhang stehenden Schutz der Beschwerdeführerin vor Gefahren für Leib und Leben nicht ausreichend Rechnung getragen. Das Oberlandesgericht hat zwar vor dem Hintergrund der Zugehörigkeit des Kindesvaters zur rechtsextremen Szene und der besonderen Aussteigersituation der Mutter umfangreiche Erkundigungen hinsichtlich des Vorliegens einer Gefährdungslage eingeholt. Jedoch hat es im Rahmen seiner Entscheidung der Gefährdung der Mutter und der damit einhergehenden mittelbaren Gefährdung der Kinder zu geringes Gewicht beigemessen. Aus den dem Gericht vorliegenden Unterlagen ergeben sich Anhaltspunkte für eine konkrete Gefährdung der Beschwerdeführerin, durch Rechtsextremisten erheblichem körperlichem oder seelischem Druck ausgesetzt zu werden. Ob die Kinder derselben Gefahr unmittelbar und eigenständig ausgesetzt sind, kann dahinstehen. Das Wohl der in der Obhut der Mutter aufwachsenden Kinder ist von der körperlichen Unversehrtheit ihrer Mutter abhängig, hinter deren Schutz das Umgangsrecht des Vaters hier zurücktreten muss.

(a) Zwar hat das Oberlandesgericht in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise angenommen, dass es hinsichtlich der Wertung, ob eine konkrete Gefährdung für das Kindeswohl gegeben ist, nicht durch die Entscheidung des Bezirksamts, das die Namensänderung der Beschwerdeführerin und ihrer Kinder angeordnet hat, gebunden ist. Der namensändernde Verwaltungsakt entfaltet Tatbestandswirkung gegenüber den Gerichten nur hinsichtlich der in ihm getroffenen Regelung und nicht hinsichtlich des zugrunde gelegten Sachverhalts (vgl. Schemmer, in: Bader/Ronellenfitsch, Beck'scher Online-Kommentar VwVfG ≪Oktober 2012≫, § 43 Rn. 28).

(b) Soweit das Oberlandesgericht jedoch ausführt, aus dem Schreiben des Landesamts für Verfassungsschutz Sachsen vom 26. April 2007 lasse sich keine konkrete Gefährdungslage herleiten, weil demnach lediglich die „abstrakte Gefahr” bestehe, dass die Beschwerdeführerin bei Bekanntwerden des Aufenthaltsorts erheblich erhöhtem körperlichen und seelischen Druck ausgesetzt sein könnte, verkennt das Oberlandesgericht, dass es sich bei der beschriebenen Gefahr um eine strukturelle und dauerhafte Gefährdungssituation handelt, die bereits hinreichend konkret ist und sich jederzeit verwirklichen kann. Dass im Schreiben des Landesamts für Verfassungsschutz von einer „abstrakten Gefahr” die Rede ist, steht dieser rechtlichen Einordnung nicht entgegen.

Die strukturell und dauerhaft konkrete Gefährdung der Beschwerdeführerin ist auf ihren Ausstieg aus der rechtsextremistischen Szene zurückzuführen. Dies hat das Landesamt für Verfassungsschutz Sachsen in seiner Stellungnahme vom 26. April 2007 wie folgt erläutert: „Auf Aussteiger reagiert die Szene unterschiedlich. In der subkulturell-rechtsextremistischen Skinheadszene mit ihren weitgehend unverbindlichen Strukturen kann eine verhältnismäßig hohe Fluktuation unter den Sympathisanten festgestellt werden. Ein Aussteigen aus der Szene oder auch nur das bloße Fernbleiben von Zusammenkünften oder Veranstaltungen weckt im Normalfall nicht das Interesse an einem möglichen Verräter. Anders sind die Verhältnisse in der strukturierten, meist neonationalsozialistisch ausgerichteten Kameradschaftsszene mit ihrem geschlossenen rechtsextremistischen Weltbild zu sehen. Hier dominiert im kollektiven Selbstverständnis die Auffassung, der einzig richtigen Sache zu dienen. Jene Sache zu hinterfragen, wird in dieser Szene als Ausdruck fehlender politischer Reife gewertet, sie – zumal in der Öffentlichkeit – als Irrweg darzustellen, wird als direkter politischer Angriff auf die eigene ideologische Identität betrachtet. Je länger ein vormaliger Rechtsextremist der Szene angehörte, je prominenter er in dieser Szene war, umso ausgeprägter das Bedürfnis, den Ausstieg zu sanktionieren. [Die Beschwerdeführerin] gehörte zu diesen szeneprominenten Personen mit einer langjährigen Biographie als Rechtsextremistin. Ein zusätzliches Gewicht erfährt ihre Abwendung vom Rechtsextremismus noch durch den Umstand, dass sie keinen stillen Ausstieg vollzog, sondern vielmehr – insbesondere durch Interviewäußerungen – ihre Ausstiegsmotive erläuterte und einer breiten Öffentlichkeit die Gefahren des Rechtsextremismus erläuterte. Ein Bekanntwerden des Aufenthalts [der Beschwerdeführerin] würde für sie die abstrakte Gefahr erheblich erhöhen, körperlichem oder seelischem Druck ausgesetzt zu werden. Hierbei wäre insbesondere auf spontane Einzelhandlungen von Rechtsextremisten hinzuweisen, die sich berufen fühlen könnten, an [der Beschwerdeführerin] ein Exempel zu statuieren.”

Auch wenn sich aus der Stellungnahme des Landesamts für Verfassungsschutz Sachsen keine Anhaltspunkte für eine konkrete Planung von Aktionen gegen die Beschwerdeführerin ergeben, so wird doch deren spezifische Gefährdungssituation beschrieben. Sowohl die herausgehobene, „szeneprominente” Stellung, die die Beschwerdeführerin langjährig eingenommen hatte, als auch der Umstand, dass sie keinen „stillen” Ausstieg gewählt hat, begründen nach der Einschätzung des Landesamts eine erheblich erhöhte Gefahr, Opfer von einer „Bestrafungsaktion” der Szene zu werden. Es ist nicht ersichtlich, dass sich die mögliche Neigung einzelner Angehöriger der Szene, an der Beschwerdeführerin ein Exempel zu statuieren, durch Zeitablauf erledigt hätte.

(c) Auch das Landeskriminalamt Niedersachsen weist in seiner Stellungnahme vom 21. April 2009 darauf hin, dass die Gefahr von Sanktionsmaßnahmen gegen Aussteiger der rechten Szene immanent sei, wenngleich es die aktuelle Gefahrenlage als gering einschätzt.

(d) Die Beschwerdeführerin hat zudem einen Bericht der Aussteigerorganisation EXIT überreicht, der die Darstellung von Einzelfällen enthält, in denen Aussteiger aus der Szene nach ihrem Ausstieg bedroht, verfolgt oder körperlich misshandelt wurden. Darauf ist das Oberlandesgericht nicht näher eingegangen.

(e) Soweit das Oberlandesgericht davon ausgeht, eine konkrete Gefährdung sei bereits aufgrund des Umstands ausgeschlossen, dass es in den vergangenen Jahren trotz vorübergehenden Bekanntseins der Aufenthaltsorte der Beschwerdeführerin nicht zu einem Übergriff aus der rechte Szene gekommen sei, setzt sich das Oberlandesgericht nicht damit auseinander, dass die Beschwerdeführerin nach Aufdeckung ihrer Identität jeweils zügig den Wohnort gewechselt und ihren Namen geändert hat, um Übergriffe auszuschließen.

Vor diesem Hintergrund erscheint auch die Aussage des Landeskriminalamts Niedersachsen, die Gefahrenlage sei als gering einzuschätzen, konkrete Gefährdungserkenntnisse lägen derzeit nicht vor, in einem anderen Licht. Im Rahmen einer Gefährdungsanalyse ist zu bedenken, dass die Beschwerdeführerin in den letzten Jahren aufgrund der zu ihren Gunsten eingeleiteten Schutzmaßnahmen unter einer verdeckten Identität gelebt hat und diese allenfalls kurzfristig in der rechtsextremen Szene bekannt war. Es bestanden daher in den letzten Jahren kaum Gelegenheiten für Aktionen gegen die Beschwerdeführerin. Dies schließt nicht aus, dass bei Bekanntwerden der Identität der Beschwerdeführerin Übergriffe erfolgen werden; die bislang vergleichsweise günstige Situation könnte gerade auf den ergriffenen Schutzmaßnahmen beruhen.

(f) Der angeordnete begleitete Umgang kann die Aufdeckung der Identität der Beschwerdeführerin zur Folge haben. So besteht die Möglichkeit, dass die Kinder im Rahmen der Umgangskontakte trotz Anwesenheit einer dritten Person unbeabsichtigt Hinweise auf ihren Wohnort geben. Ebenso besteht die Gefahr, dass die Beschwerdeführerin, die die Kinder zum Ort der Umgangskontakte bringen und sie von dort abholen muss, bei dieser Gelegenheit beobachtet wird und die rechtsextreme Szene dadurch Hinweise auf ihren Aufenthaltsort erhält.

Weil es möglich ist, dass der Aufenthaltsort der Beschwerdeführerin bei Durchführung der Umgangskontakte ermittelt würde und weil nicht ausgeschlossen werden kann, dass es bei Bekanntwerden ihres Aufenthaltsorts zu Übergriffen auf die Beschwerdeführerin aus der rechtsextremen Szene käme, wären die körperliche Unversehrtheit und das Leben der Beschwerdeführerin im Falle der Aufrechterhaltung des Umgangsrechts in unmittelbarer Gefahr. Da die Beschwerdeführerin die betroffenen Kinder betreut und für sie die Hauptbezugsperson darstellt, bedeutet dies auch eine konkrete Kindeswohlgefährdung, die der Durchführung von Umgangskontakten entgegensteht.

(2) Die angegriffene Entscheidung befasst sich ferner nicht hinreichend mit denkbaren nachteiligen Folgen der angeordneten Umgangskontakte für die Kinder. Zum einen geht das Oberlandesgericht nicht der Frage nach, welche Auswirkungen die Durchführung von Umgangskontakten unter ihren alten Identitäten auf die Kinder haben kann (a). Zum anderen hat sich das Oberlandesgericht nicht hinreichend damit auseinandergesetzt, ob die Kinder dem Umgang mit dem Vater nicht mittlerweile derart ablehnend gegenüberstehen, dass die Anordnung von Umgangskontakten gegen ihren Willen eine seelische Schädigung hervorrufen könnte (b).

(a) In der angegriffenen Entscheidung des Oberlandesgerichts finden sich keine Ausführungen dazu, welche Auswirkungen die Durchführung von Umgangskontakten auf die Kinder haben kann, solange sie unter einer neuen Identität leben, die sie im Rahmen der Umgangskontakte nicht preisgeben dürfen.

Unabhängig von der Frage, ob eine akute Gefahrensituation besteht, wird den Kindern durch die Vergabe neuer Namen, die gegenüber dem Vater ebenso wie der aktuelle Wohnort geheim gehalten werden müssen, vermittelt, dass sie sich in einer Gefahrenlage befinden. Vor diesem Hintergrund könnte durch die Umgangskontakte eine hohe psychische Belastung für die Kinder entstehen, da sie ihrem Vater nicht unbeschwert gegenüber treten können, sondern ihr Verhalten entsprechend der vermuteten Gefahrenlage ausrichten müssen. Dies könnte zu einer erheblichen Verunsicherung und Verwirrung der Kinder führen. Inwieweit unter solchen Bedingungen die Durchführung von Umgangskontakten für die Kinder überhaupt kindeswohlförderlich sein kann, ist fraglich. Zwar haben die Sachverständigen im Rahmen der Interaktionsbeobachtung festgestellt, dass es den Kindern kein Problem bereite, mit ihren verschiedenen Namen und Identitäten umzugehen. Bei der Interaktion war der Kindesvater allerdings nicht eingebunden. Es liegt nahe, dass Umgangskontakte, die – wie von den Sachverständigen empfohlen – unter Inanspruchnahme der alten Identität stattfinden, für die Kinder schädlich sein könnten. Hiermit setzt sich weder das Sachverständigengutachten noch die angegriffene Entscheidung auseinander, obwohl diesbezügliche Bedenken durch den Ergänzungspfleger vorgebracht wurden. Eine Einschränkung oder ein Ausschluss des Umgangsrechts ist jedoch veranlasst, wenn nach den Umständen des Einzelfalls der Schutz des Kindes dies erfordert, um eine Gefährdung seiner seelischen Entwicklung abzuwehren (vgl. BVerfGE 31, 194 ≪209 f.≫).

(b) Ferner geht aus dem letzten Bericht des Verfahrenspflegers vom 15. Mai 2012 hervor, dass die Kinder der Durchführung von Umgangskontakten zunehmend ablehnend gegenüberstehen. So seien die Kinder in ihren verbalen Äußerungen ablehnend gegenüber dem Vater gewesen. Die Ablehnung habe sich auf zwei Komplexe bezogen: frühere Gewalttätigkeit des Vaters gegen die Kinder sowie die allgemeine Feststellung, dass „er böse sei”. Im Gegensatz dazu hatten die Sachverständigen im September 2011 noch festgestellt, dass die Kinder unverkrampft über das Thema Vater hätten sprechen können und die Frage, ob sie sich vorstellen könnten, den Vater einmal wieder zu sehen, unaufgeregt positiv beantwortet hätten. Vor dem Hintergrund der offensichtlich stark geänderten Einstellung der Kinder gegenüber Kontakten zum Vater sowie vom Verfahrenspfleger festgestellten Verhaltensauffälligkeiten der Kinder hätte sich das Oberlandesgericht mit der Frage auseinandersetzen müssen, ob unter diesen geänderten Umständen ein Umgangskontakt möglicherweise das Kindeswohl gefährdet, zumal das Oberlandesgericht selbst festgestellt hat, dass die Kinder belastet seien und an einer tiefgreifenden Entwicklungsstörung aus dem autistischen Formenkreis litten.

b) Der Beschluss des Oberlandesgerichts ist aufzuheben und die Sache zur erneuten Entscheidung an einen anderen Senat für Familiensachen zurückzuverweisen (§ 95 Abs. 2 BVerfGG).

2. Die Anordnung der Auslagenerstattung folgt aus § 34a Abs. 2 BVerfGG.

3. Die Festsetzung des Gegenstandswertes beruht auf § 37 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit § 14 Abs. 1 RVG (vgl. BVerfGE 79, 365 ≪366 ff.≫).

 

Unterschriften

Gaier, Paulus, Britz

 

Fundstellen

Haufe-Index 3577966

FamRZ 2013, 433

FamRZ 2013, 531

FuR 2013, 284

MDR 2013, 222

Streit 2013, 75

FamRB 2013, 317

NPA 2013

ZKJ 2013, 162

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