Verfahrensgang

BAG (Beschluss vom 05.10.1995; Aktenzeichen 2 AZN 557/95)

Sächsisches LAG (Urteil vom 14.03.1995; Aktenzeichen 11 Sa 820/94)

 

Tenor

Das Urteil des Sächsischen Landesarbeitsgerichts vom 14. März 1995 – 11 Sa 820/94 – verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Artikel 12 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 33 Absatz 2 des Grundgesetzes. Das Urteil des Landesarbeitsgerichts wird aufgehoben. Die Sache wird an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen.

Im übrigen wird die Verfassungsbeschwerde verworfen.

Der Freistaat Sachsen hat der Beschwerdeführerin die notwendigen Auslagen zu erstatten.

 

Tatbestand

I.

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die ordentliche Kündigung einer Lehrerin, die in der Deutschen Demokratischen Republik ehrenamtliche Parteisekretärin war und die Frage ihres Arbeitgebers nach Funktionen in politischen Parteien ungenau beantwortet hat.

1. Der Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands (EV), dem Bundestag und Bundesrat durch Gesetz vom 23. September 1990 zugestimmt haben (BGBl II S. 885), regelt unter anderem die Rechtsverhältnisse der Angehörigen des öffentlichen Dienstes im Beitrittsgebiet. Nach Art. 20 Abs. 1 in Verbindung mit Anlage I Kapitel XIX Sachgebiet A Abschnitt III Nr. 1 Abs. 4 Nr. 1 EV (künftig: Abs. 4 Nr. 1 EV) ist die ordentliche Kündigung eines Arbeitsverhältnisses in der öffentlichen Verwaltung auch zulässig, wenn der Arbeitnehmer wegen mangelnder fachlicher oder persönlicher Eignung den Anforderungen nicht entspricht (zu Sinn und Zweck der Regelung vgl. BVerfGE 92, 140 ≪142, 151 f.≫).

2. a) Die 1939 geborene Beschwerdeführerin ist Lehrerin und war seit 1960 im Schuldienst der Deutschen Demokratischen Republik beschäftigt. Sie unterrichtete zunächst in Oberstufenklassen einer polytechnischen Oberschule, seit 1965 war sie an einer Förderschule für Lernbehinderte tätig. Von 1968 bis 1978 und erneut von 1983 bis 1987 war die Beschwerdeführerin ehrenamtliche Parteisekretärin an der Förderschule. Von 1979 bis 1983 war sie Propagandistin der SED beziehungsweise Zirkelleiterin des Parteilehrjahres und seit 1987 Schulparteileitungsmitglied. Die ihr nach dem Beitritt in einem Fragebogen gestellte Frage nach ihren Mandaten oder Funktionen in politischen Parteien beantwortete die Beschwerdeführerin mit: „SED, ehrenamtliches Leitungsmitglied”. Mit Schreiben vom 30. September 1993 kündigte der Freistaat Sachsen, gestützt auf Abs. 4 Nr. 1 EV, das Arbeitsverhältnis der Beschwerdeführerin zum 31. Dezember 1993.

b) Das Arbeitsgericht gab der Kündigungsschutzklage statt. Das Landesarbeitsgericht änderte das Urteil, stellte den Fortbestand des Arbeitsverhältnisses zwar bis zum 30. Juni 1994 fest, wies die Klage aber im übrigen ab. Die wiederholte Ausübung des Amtes einer ehrenamtlichen Parteisekretärin indiziere eine besondere Identifikation mit den Zielen des SED-Staates. Diese Indizwirkung zu entkräften, sei der Beschwerdeführerin nicht gelungen. Unabhängig davon sei die Beschwerdeführerin zudem persönlich ungeeignet, weil sie bei ihrer Befragung wahrheitswidrig ihre Funktion als Parteisekretärin verschwiegen habe. Die Beschwerdeführerin sei nicht nur Mitglied des Leitungsgremiums gewesen, sondern auch Parteisekretärin. Mit ihrer reduzierten Angabe habe sie den Eindruck erweckt, nicht Parteisekretärin gewesen zu sein.

Das Bundesarbeitsgericht wies die Nichtzulassungsbeschwerde der Beschwerdeführerin zurück. Die Voraussetzungen für eine Zulassung der Revision wegen Divergenz lägen nicht vor.

c) Mit ihrer fristgerecht eingegangenen und begründeten Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin unter anderem eine Verletzung ihrer Rechte aus Art. 12 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 33 Abs. 2 GG.

aa) Ihre persönliche Ungeeignetheit würde allein aus den von ihr wahrgenommenen Funktionen abgeleitet. Konkrete Umstände oder Verhaltensweisen im Zusammenhang mit der Ausübung dieser Funktionen würden ihr nicht vorgehalten. Dies verkenne den aus Art. 12 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 33 Abs. 2 GG folgenden Grundrechtsschutz.

bb) Ihre Beantwortung des Fragebogens könne weder als unvollständig, noch als unwahr oder wahrheitswidrig angesehen werden. Auch als ehrenamtliche Schulparteisekretärin sei sie ehrenamtliches Parteileitungsmitglied gewesen.

3. Zu der Verfassungsbeschwerde haben das Sächsische Staatsministerium der Justiz namens der Sächsischen Staatsregierung und der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) Stellung genommen.

Nach Ansicht des Sächsischen Staatsministeriums der Justiz hat das Landesarbeitsgericht die nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gebotene Gesamtwürdigung der Persönlichkeit der Beschwerdeführerin durchgeführt. Es stütze seine Entscheidung nicht nur auf die Tätigkeit der Beschwerdeführerin als ehrenamtliche Parteisekretärin, sondern verweise auch auf die 14 Jahre währende Dauer dieser Tätigkeit sowie darauf, daß die mehrmalige Wiederwahl erkennen lasse, daß sich die Beschwerdeführerin besonders mit dem SED-Staat verbunden gefühlt habe. Auch die verschiedenen anderen Funktionen der Beschwerdeführerin als Zirkelleiterin des Parteilehrjahres und als Schulparteileitungsmitglied sowie die vielfältigen ihr verliehenen Auszeichnungen belegten, daß sie in voller Übereinstimmung mit Partei und Staat gehandelt habe.

Daneben stelle das Landesarbeitsgericht auch zu Recht darauf ab, daß die Beschwerdeführerin bei ihrer Befragung wahrheitswidrig das Amt der Parteisekretärin verschwiegen habe. Die Zweifel an ihrer persönlichen Eignung würden ferner dadurch bestätigt, daß sie noch in der Güteverhandlung vor dem Arbeitsgericht wahrheitswidrig nur den Zeitraum von 1984 bis 1986 hinsichtlich ihrer Parteisekretärstätigkeit angegeben habe.

 

Entscheidungsgründe

II.

1. Die Verfassungsbeschwerde ist unzulässig, soweit sie sich gegen den Beschluß des Bundesarbeitsgerichts richtet. Die Beschwerdeführerin legt nicht dar, inwiefern sie durch die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts über die Nichtzulassungsbeschwerde in Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten verletzt sein soll.

2. Im übrigen ist die Annahme der Verfassungsbeschwerde zur Durchsetzung der Berufsfreiheit der Beschwerdeführerin aus Art. 12 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 33 Abs. 2 GG angezeigt (§ 93 a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Das Urteil des Landesarbeitsgerichts verletzt die Beschwerdeführerin in dem genannten Grundrecht. Die für diese Beurteilung maßgeblichen Fragen hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden (§ 93 c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).

a) Art. 12 Abs. 1 GG schützt unter anderem die freie Wahl des Arbeitsplatzes. Diese umfaßt neben der Entscheidung für eine konkrete Beschäftigung auch den Willen des Einzelnen, den Arbeitsplatz beizubehalten. Das Grundrecht entfaltet seinen Schutz gegen alle staatlichen Maßnahmen, die diese Wahlfreiheit beschränken (vgl. dazu im einzelnen BVerfGE 84, 133 ≪146≫; 92, 140 ≪150≫). Soweit es um Arbeitsverhältnisse des öffentlichen Dienstes geht, trifft Art. 33 Abs. 2 GG eine ergänzende Regelung. Das Urteil des Landesarbeitsgerichts, das die Kündigung des Arbeitsverhältnisses der Beschwerdeführerin bestätigt, greift in diese Rechte der Beschwerdeführerin ein.

b) aa) Die Arbeitsplatzwahl kann ebenso wie die anderen Gewährleistungen des Art. 12 Abs. 1 GG durch Gesetz beschränkt werden. Die Anforderungen hierfür sind höher als bei Regelungen der Berufsausübung. Gerechtfertigt ist eine Einschränkung jedenfalls dann, wenn zwingende Gründe des Gemeinwohls sie erfordern (vgl. BVerfGE 92, 140 ≪151 f.≫) und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachtet worden ist. Zu den Gemeinwohlgründen gehören insbesondere die Belange, denen Art. 33 Abs. 2 GG mit den Anforderungen an den Zugang zum öffentlichen Dienst Rechnung trägt. Diese gelten auch dann, wenn – wie hier – auf der Grundlage des Einigungsvertrages die Prüfung der Zugangsvoraussetzungen im Rahmen der Entscheidung über die Aufrechterhaltung eines Arbeitsverhältnisses nachgeholt wird (vgl. BVerfG, NZA 1997, S. 932 ≪933≫).

bb) Der in Abs. 4 Nr. 1 EV enthaltene Sonderkündigungstatbestand, auf den die angegriffenen Entscheidungen gestützt sind, genügt diesen Anforderungen (vgl. BVerfGE 92, 140 ≪150 ff.≫).

c) aa) Bei der Auslegung und Anwendung von arbeitsrechtlichen Kündigungsvorschriften im öffentlichen Dienst müssen die Gerichte allerdings den Schutz beachten, den Art. 12 Abs. 1 GG insofern gewährt. Steht zugleich die Eignung für den öffentlichen Dienst in Rede, tritt Art. 33 Abs. 2 GG ergänzend hinzu. Diese Rechte sind verletzt, wenn ihre Bedeutung und Tragweite bei der Auslegung und Anwendung der arbeitsrechtlichen Vorschriften grundsätzlich verkannt wird. Dagegen ist es nicht Sache des Bundesverfassungsgerichts zu kontrollieren, wie die Gerichte den Schutz im einzelnen auf der Grundlage des einfachen Rechts gewähren und ob ihre Auslegung den bestmöglichen Schutz sichert (BVerfGE 92, 140 ≪152 f.≫).

bb) Im Lichte der genannten Verfassungsnormen darf bei der Auslegung von Abs. 4 Nr. 1 EV die erkennbare Absicht des Einigungsvertrages nicht außer acht gelassen werden, die Mitarbeiter nicht abgewickelter Einrichtungen des öffentlichen Dienstes der Deutschen Demokratischen Republik weitgehend in den öffentlichen Dienst der Bundesrepublik Deutschland einzugliedern und ihre Arbeitsverhältnisse aufrechtzuerhalten, soweit nicht im Einzelfall Eignungsmängel im Sinne von Art. 33 Abs. 2 GG festgestellt werden. Da Beschäftigung und Fortkommen im öffentlichen Dienst der Deutschen Demokratischen Republik regelmäßig von einer gesteigerten Loyalität gegenüber Staat und Partei sowie der Bereitschaft zum Engagement in parteilichen und gesellschaftlichen Organisationen abhingen, können die damit verbundenen Positionen oder Funktionen für sich allein in der Regel eine Kündigung nicht rechtfertigen. Die persönliche Eignung des Mitarbeiters für eine Weiterbeschäftigung im öffentlichen Dienst der Bundesrepublik ist vielmehr im Zeitpunkt der Kündigung aufgrund einer Prognose festzustellen, die eine konkrete und einzelfallbezogene Würdigung seiner gesamten Persönlichkeit voraussetzt.

Sein Verhalten und seine Einstellung in der Vergangenheit sind dafür zwar eine wesentliche Erkenntnisquelle. Die danach verfassungsrechtlich gebotene Gesamtwürdigung darf aber nicht dadurch verkürzt werden, daß einer vom Mitarbeiter früher innegehabten Funktion eines Schulparteisekretärs das Gewicht einer gesetzlichen Vermutung beigemessen wird, die einen Eignungsmangel begründet, wenn sie nicht widerlegt wird. Diese Funktion war weder so herausgehoben noch so einflußreich, daß allein aus ihrer Wahrnehmung der Schluß auf eine fortbestehende Verbundenheit mit dem Herrschaftssystem der Deutschen Demokratischen Republik gezogen und nur durch besondere Umstände, die das Gegenteil belegen, entkräftet werden kann (vgl. BVerfG, NZA 1997, S. 932 ≪933 f.≫). Ohne Hinzutreten weiterer belastender Umstände läßt sich daher allein aus der früheren Wahrnehmung dieses Amtes der Schluß auf eine mangelnde Eignung nicht ziehen (BVerfG, NZA 1997, S. 932 ≪934≫).

d) Bei der Einschätzung, ob der Mitarbeiter generell nicht vertrauenswürdig ist, darf im Hinblick auf den grundrechtlichen Schutz des Arbeitsplatzes auch nicht der Unterschied zwischen einer unwahren und einer ungenauen Antwort auf Fragen nach einer früheren Parteifunktion außer Betracht bleiben; dies gilt um so mehr, wenn der Mitarbeiter dem Arbeitgeber mit seiner Antwort einen Hinweis auf seine Parteifunktion gegeben hat, dem dieser durch weitere Nachfrage ohne wesentlichen Aufwand hätte nachgehen können (vgl. BVerfG, NZA 1997, S. 992 ≪995≫).

e) Diesen Maßstäben wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts nicht gerecht. Es verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Art. 12 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 33 Abs. 2 GG.

Das Landesarbeitsgericht läßt allein die wiederholte Übernahme des Amtes einer ehrenamtlichen Schulparteisekretärin zur Begründung der mangelnden persönlichen Eignung der Beschwerdeführerin ausreichen und mißt dieser damit die Bedeutung einer widerlegbaren Vermutung für die Nichteignung bei. Die 14 Jahre währende Dauer dieser Tätigkeit und die mehrmalige Wiederwahl sind aber noch nicht geeignet, die Beschwerdeführerin über die Wahrnehmung der Funktion hinaus zu belasten. Unbeachtlich ist der Hinweis des Sächsischen Staatsministeriums der Justiz in seiner Stellungnahme zu der Verfassungsbeschwerde auf die weiteren Funktionen der Beschwerdeführerin sowie ihr verliehene Auszeichnungen. Das Landesarbeitsgericht hat diese Umstände nicht zur Begründung der mangelnden persönlichen Eignung der Beschwerdeführerin herangezogen.

Soweit das Landesarbeitsgericht als zweite, eigenständige Begründung der Entscheidung auf eine falsche Beantwortung der Frage nach Funktionen der Beschwerdeführerin in politischen Parteien abstellt, verkennt es ebenfalls Bedeutung und Tragweite von Art. 12 Abs. 1 GG. Denn eine nähere Würdigung, ob die ungenaue Antwort der Beschwerdeführerin tatsächlich geeignet war, das Vertrauen in ihre charakterliche Integrität zu zerstören, hat das Landesarbeitsgericht nicht vorgenommen. Hierzu hätte jedoch Anlaß bestanden, da die Antwort der Beschwerdeführerin nicht im strengen Sinne unwahr war; auch der Parteisekretär gehörte der dreiköpfigen Parteileitung an (vgl. BVerfG, NZA 1997, S. 992 ≪995≫). Darauf, daß die Beschwerdeführerin in der Güteverhandlung falsche Angaben gemacht hätte, stellt das Landesarbeitsgericht nicht ab. Die Kündigung war zu diesem Zeitpunkt auch bereits ausgesprochen.

 

Unterschriften

Steiner, Jaeger, Kühling

 

Fundstellen

Haufe-Index 1113494

ZBR 1998, 352

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Deutsches Anwalt Office Premium. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge