Verfahrensgang
LG Hamburg (Beschluss vom 05.07.2004; Aktenzeichen 631 Qs 45/04) |
Tenor
- Der Beschluss des Landgerichts Hamburg vom 5. Juli 2004 – 631 Qs 45/04 – verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 19 Absatz 4 des Grundgesetzes. Er wird aufgehoben. Die Sache wird an das Landgericht zurückverwiesen.
- Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.
- Die Freie und Hansestadt Hamburg hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu erstatten.
Gründe
Die Verfassungsbeschwerde betrifft unter anderem die Frage effektiven Rechtsschutzes gegen abgeschlossene grundrechtsrelevante Ermittlungshandlungen der Strafverfolgungsbehörden.
A.
I.
Der Beschwerdeführer wollte am 25. November 2003 an einer spontanen Demonstration gegen die Durchsuchung des Radiosenders “Freies Sender Kombinat” durch die Polizei in Hamburg teilnehmen. Er begab sich daher gegen 17:00 Uhr zum Ort der Durchsuchungsmaßnahme. Als er dort zwischen zwei am Straßenrand parkenden Pkw auf die Fahrbahn trat, wurde er von mehreren Polizeibeamten zu Boden gebracht. Ihm wurde eröffnet, dass er wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte vorläufig festgenommen sei. Nach Schilderung der Beamten hatte er versucht, mit seinem Fahrrad die Polizeikette zu durchbrechen. Der Beschwerdeführer bestreitet die Tat. Nach der Festnahme wurde er als Beschuldigter belehrt und nach seinem Personalausweis gefragt, den er den Beamten aushändigte. Die aus dem Ausweisdokument ersichtlichen Daten wurden von einem Polizisten abgeschrieben. Nach einer Durchsuchung seiner Person wurde der Beschwerdeführer mit dem Gefangenentransporter auf eine Polizeidienststelle verbracht. Dies geschah gegen ca. 17:20 Uhr bzw. 17:30 Uhr. Um 18:55 Uhr wurde der Verteidigerin und jetzigen Bevollmächtigten des Beschwerdeführers telefonisch mitgeteilt, dass dessen “erkennungsdienstliche Behandlung” angeordnet worden sei. Nach Durchführung der Maßnahme – Fertigung von Lichtbildern und Abnahme von Fingerabdrücken zum Zwecke des Strafverfahrens – wurde der Beschwerdeführer gegen 21:30 Uhr entlassen.
II.
Der Beschwerdeführer beantragte gegenüber dem Amtsgericht die Feststellung der Rechtswidrigkeit der vorläufigen Festnahme und der Anordnung und Durchführung der auf § 81b StPO gestützten Maßnahme.
Nachdem die Polizei gegenüber dem Amtsgericht bestätigt hatte, dass die Personalien des Beschwerdeführers noch am Festnahmeort anhand des Personalausweises festgestellt werden konnten, sprach dieses mit Beschluss vom 11. Juni 2004 die Rechtswidrigkeit der Freiheitsentziehung zum Zwecke der “erkennungsdienstlichen Behandlung gemäß § 81b StPO” aus.
Auf die Beschwerde der Staatsanwaltschaft hob das Landgericht den amtsgerichtlichen Beschluss auf und wies den Antrag des Beschwerdeführers auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der polizeilichen Maßnahmen zurück. Die Beschwerdekammer führte aus, dass Rechtsgrundlage für das polizeiliche Handeln die Vorschrift des § 81b StPO gewesen sei. Unter Verweis auf § 162 Abs. 3 StPO sah sich das Landgericht an einer Überprüfung der “Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit” der polizeilichen Maßnahmen gehindert. Die Maßnahmen seien aber jedenfalls zulässig und im Ergebnis auch verhältnismäßig gewesen.
B.
Die Verfassungsbeschwerde wendet sich gegen die vorläufige Festnahme des Beschwerdeführers, die Anordnung der auf § 81b StPO beruhenden strafprozessualen Maßnahme und den Beschluss des Landgerichts. Der Beschwerdeführer macht u.a. eine Verletzung seines Grundrechts aus Art. 19 Abs. 4 GG geltend. Insbesondere wendet er ein, das Landgericht habe bei der rechtlichen Kontrolle der polizeilichen Maßnahmen nicht auf den Prüfungsmaßstab des § 162 Abs. 3 StPO abstellen dürfen. Die nach § 98 Abs. 2 Satz 2 StPO analog vorzunehmende Prüfung abgeschlossener Ermittlungshandlungen habe sich auch auf deren materielle Rechtmäßigkeit bzw. Unrechtmäßigkeit zu erstrecken gehabt.
C.
Die Justizbehörde der Freien und Hansestadt Hamburg hat von einer Stellungnahme zur Verfassungsbeschwerde abgesehen.
D.
I.
Die Verfassungsbeschwerde wird, soweit sie sich gegen den Beschluss des Landgerichts wendet, zur Entscheidung angenommen, weil dies zur Durchsetzung der Rechte des Beschwerdeführers angezeigt ist, § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG.
Die Zuständigkeit der Kammer ist gegeben. Die statthafte Rüge betrifft die Frage der Ausgestaltung effektiven Rechtsschutzes gegen abgeschlossene strafprozessuale Maßnahmen. Sowohl die Frage der Rechtswegeröffnung gegen bereits durchgeführte Ermittlungshandlungen als auch die Frage der Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes sind bereits Gegenstand verfassungsgerichtlicher Rechtsprechung gewesen (vgl. BVerfGE 67, 43 ≪58≫; 96, 27 ≪39 f.≫).
Soweit sich die Verfassungsbeschwerde unmittelbar gegen das polizeiliche Handeln richtet, fehlt das für die Annahme des Rechtsbehelfs erforderliche Rechtsschutzbedürfnis. Die polizeilichen Maßnahmen sind Gegenstand gerichtlicher Rechtmäßigkeitskontrolle gewesen. Bei Erfolg der gegen den landgerichtlichen Beschluss gerichteten Verfassungsbeschwerde besteht für den Beschwerdeführer erneut die Möglichkeit, die gegen ihn ergriffenen Ermittlungshandlungen der Polizei fachgerichtlich überprüfen zu lassen.
II.
Die Verfassungsbeschwerde ist im Umfang der Annahme zulässig und begründet.
Der Beschluss des Landgerichts verletzt den Beschwerdeführer jedenfalls in seinem aus Art. 19 Abs. 4 GG folgenden Anspruch auf effektiven justiziellen Rechtsschutz gegen erledigte strafprozessuale Ermittlungsmaßnahmen.
Noch zutreffend hat die Strafkammer berücksichtigt, dass Art. 19 Abs. 4 GG dazu zwingt, auf Ermächtigungsnormen der Strafprozessordnung beruhende hoheitliche Eingriffe in die grundrechtlich geschützte Sphäre des Einzelnen auch dann einer gerichtlichen (Nach-)Kontrolle zu unterziehen, wenn die Maßnahme vor der Möglichkeit der Anrufung des Gerichts bereits beendet war (vgl. BVerfGE 96, 27 ≪39 f.≫). Ebenfalls zutreffend ist die Annahme des Landgerichts, dass eine Ermittlungshandlung nach § 81b StPO – von der die Strafkammer vorliegend ausgegangen ist – dann, wenn sie gegen den Willen des Betroffenen durchgesetzt wird, zu der Gruppe der Maßnahmen gehört, die einer nachträglichen gerichtlichen Überprüfung zugänglich sein muss. Dies findet seinen Grund darin, dass der auf Anwendung von Zwang beruhende Vollzug der Ermittlungstätigkeit stets mit einer grundrechtsrelevanten Freiheitsbeschränkung des Maßnahmeadressaten einhergeht (vgl. OLG Stuttgart, StV 1988, S. 424; BayObLG, DÖV 1984, S. 515 f.; Krause, in: Löwe-Rosenberg, Kommentar zur Strafprozessordnung, 25. Aufl., § 81b Rn. 25). Es ist verfassungsrechtlich auch nicht zu beanstanden, dass das Beschwerdegericht in Übereinstimmung mit der ganz herrschenden Auffassung in Rechtsprechung und Literatur die Rechtsgrundlage für die nachträgliche Überprüfung der Ermittlungshandlung in § 98 Abs. 2 Satz 2 StPO analog erblickt hat (vgl. BGHSt 44, 265 ≪267 ff.≫; Schäfer, in: Löwe-Rosenberg, a.a.O., § 98 Rn. 50). Verkannt hat es jedoch den von dieser Vorschrift gewährten Umfang gerichtlicher Kontrolle. Dieser bemisst sich nicht nach dem von § 162 Abs. 3 StPO vorgegebenen eingeschränkten Prüfungsmaßstab. Der Maßstab des § 162 Abs. 3 StPO gilt nur für richterliche Untersuchungshandlungen ohne größere Grundrechtsrelevanz (vgl. Meyer-Goßner, Strafprozessordnung, 48. Aufl. 2005, § 162 Rn. 14). Vielmehr ermöglicht § 98 Abs. 2 Satz 2 StPO eine vollständige, sich auch auf den materiellen Gehalt einer Eingriffsmaßnahme erstreckende Rechtmäßigkeitsprüfung (vgl. Schäfer, in: Löwe-Rosenberg, a.a.O., § 105 Rn. 111). Zu prüfen sind neben den vom Tatbestand der Eingriffsnorm genannten Voraussetzungen für ein behördliches Tätigwerden – entgegen der Ansicht des Landgerichts – auch die Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit der durchgeführten Maßnahme. Dies folgt unmittelbar aus dem Rechtsstaatsprinzip. Art. 20 Abs. 3 GG gibt dem Einzelnen einen Anspruch auf umfassende tatsächliche und rechtliche Bewertung eines einem Gericht unterbreiteten Sachverhalts (vgl. BVerfGE 54, 277 ≪291≫), wenn es um die nachträgliche Überprüfung strafprozessualer Eingriffe in Freiheitsgrundrechte geht.
Den Anspruch des Beschwerdeführers auf umfassende rechtliche Überprüfung der gegen ihn ergangenen hoheitlichen Maßnahme hat das Landgericht verletzt, indem es sich lediglich auf die Prüfung der Zulässigkeit und Verhältnismäßigkeit des polizeilichen Handelns beschränkt hat, ohne auf die materiellen Voraussetzungen für die Freiheitsbeschränkung einzugehen.
Da die Verfassungsbeschwerde überwiegend Erfolg hat, erscheint es angemessen, dass die Freie und Hansestadt Hamburg dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen in voller Höhe zu erstatten hat (§ 34a Abs. 2 BVerfGG).
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Unterschriften
Hassemer, Di Fabio, Landau
Fundstellen