Entscheidungsstichwort (Thema)

Beginn der Frist für eine Verfassungsbeschwerde. Körperschaftsteuervergünstigungen für Genossenschaften

 

Leitsatz (amtlich)

1. Die Bekanntmachung des Wortlauts einer geänderten Verordnung setzt die Frist des § 93 Abs. 2 BVerfGG nicht neu in Lauf.

2. Der Leitsatz BVerfGE 11, 255 gilt auch für Verordnungen.

 

Leitsatz (redaktionell)

Ein Steuerpflichtiger kann einen gegen einen Konkurrenten gerichteten Steuerbescheid nicht zum Gegenstand einer Verfassungsbeschwerde machen; ebensowenig kann er mit der Verfassungsbeschwerde erstreben, daß sein Konkurrent überhaupt zur Körperschaftsteuer herangezogen wird.

 

Normenkette

BVerfGG § 93 Abs. 2; KStDV 1958 §§ 31-35

 

Gründe

A. – I.

Die Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften sind grundsätzlich unbeschränkt körperschaftsteuerpflichtig (§ 1 Abs. 1 Nr. 2 KStG). Jedoch ist die Bundesregierung ermächtigt, durch Rechtsverordnung für Genossenschaften unter bestimmten Voraussetzungen und in bestimmter Hinsicht Erleichterungen anzuordnen (§ 23). Aufgrund dieser Ermächtigung hat die Bundesregierung den dort bestimmten Genossenschaften in den §§ 31 bis 35 der Körperschaftsteuer-Durchführungsverordnung vom 23. Dezember 1955 – KStDV 1955 – (BGBl. I S. 853) Vergünstigungen gewährt und diese Regelung durch die Verordnung zur Änderung der Körperschaftsteuer-Durchführungsverordnung vom 5. August 1959 (BGBl. I S. 622) – im folgenden: Änderungsverordnung – geändert und ergänzt.

Den nunmehrigen Wortlaut der Körperschaftsteuer-Durchführungsverordnung hat der Bundesminister der Finanzen als „Körperschaftsteuer-Durchführungsverordnung in der Fassung vom 5. August 1959 (KStDV 1958)” – BGBl. I S. 625 – bekanntgemacht.

a) Die KStDV 1955 befreit gewisse Genossenschaften in vollem Umfang von der Körperschaftsteuer, wenn sie ihren Geschäftsbetrieb auf bestimmt bezeichnete Gegenstände beschränken (§ 31); die Beteiligung an einem anderen Unternehmen gehört dazu nicht.

Die Änderungsverordnung läßt diese Bestimmung unverändert, fügt aber einen Absatz 2 hinzu, nach dem geringfügige Beteiligungen an einer Kapitalgesellschaft oder Genossenschaft die Steuerbefreiung nicht ausschließen sollen; die Geringfügigkeit einer Beteiligung soll sich nach zahlenmäßig bestimmten Merkmalen richten. Der beigefügte Absatz lautet:

(2) Absatz 1 ist nicht anzuwenden, wenn die Genossenschaft an einem steuerpflichtigen Unternehmen beteiligt ist. Das gilt nicht bei einer geringfügigen Beteiligung an einer Kapitalgesellschaft oder einer Genossenschaft. Eine Beteiligung an einer Kapitalgesellschaft ist geringfügig, wenn der Beteiligung 4 vom Hundert des Nennkapitals der Kapitalgesellschaft nicht übersteigt. Eine Beteiligung an einer Genossenschaft ist geringfügig, wenn das Stimmrecht 4 vom Hundert aller Stimmrechte und das Geschäftsguthaben 10 vom Hundert der Summe aller Geschäftsguthaben nicht übersteigen.

b) § 32 KStDV 1955 trifft Bestimmungen über die steuerliche Anfangsbilanz bei Eintritt in die Steuerpflicht. Diese Bestimmungen sind durch die Änderungsverordnung unberührt geblieben.

c) §§ 33 und 34 KStDV 1955 enthalten Bestimmungen für Kreditgenossenschaften und Zentralkassen; sie sind durch die Änderungsverordnung geringfügig geändert.

d) § 35 KStDV 1955 ordnet die Abzugsfähigkeit der „Warenrückvergütungen” (das sind Vergütungen, die unter Bemessung nach der Höhe des Warenbezugs bezahlt sind) als Betriebsausgaben an. Dabei wird die Abzugsfähigkeit der Rückvergütungen an die Mitglieder auf die im Mitgliedergeschäft erwirtschafteten Beträge beschränkt; zu ihrer Feststellung soll der Überschuß – bei Einkaufs- und Verbrauchergenossenschaften – im Verhältnis des Mitgliederumsatzes zum Gesamtumsatz und – bei Absatz- und Produktionsgenossenschaften – im Verhältnis des Wareneinkaufs bei Mitgliedern zum Gesamtwareneinkauf aufgeteilt werden. Während die KStDV 1955 diesen Überschuß nicht näher definiert hatte, bestimmt ihn die Änderungsvorschrift durch einen Zusatz als „das um den Gewinn aus Nebengeschäften geminderte Einkommen vor Abzug aller Warenrückvergütungen und vor Berücksichtigung des Verlustabzugs”.

II.

Die Beschwerdeführer, die Einzelkaufleute oder handelsrechtliche Gesellschaften sind, führen aus, daß sie mit Genossenschaften im Wettbewerb stünden und daß sie durch die den Genossenschaften gewährten Vorteile in ihren Grundrechten aus Art. 2 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1 und Art. 12 Abs. 1 GG verletzt seien. Diese Vorteile hätten eine verschiedene Ausgangslage für Genossenschaften und für andere Unternehmen zur Folge und ermöglichten den Genossenschaften die Selbstfinanzierung in höherem Maße als den anderen Unternehmen.

1. In erster Linie richten sie die am 5. August 1960 erhobene Verfassungsbeschwerde unmittelbar gegen die Regelung selbst mit dem Antrag, festzustellen, daß die §§ 31 bis 35 der Körperschaftsteuer-Durchführungsverordnung in der Fassung vom 5. August 1959 – BGBl. I S. 625 – (KStDV 1958) verfassungswidrig und daher nichtig sind.

Die Frist des § 93 Abs. 2 BVerfGG halten die Beschwerdeführer für gewahrt. Der Frage, wie die Bekanntmachung der KStDV 1958 durch den Bundesminister der Finanzen rechtlich zu würdigen sei, komme keine Bedeutung zu. Denn die Bundesregierung habe bei Erlaß der Änderungsverordnung die angegriffenen Bestimmungen der KStDV 1955 jedenfalls neu in ihren Willen aufgenommen. Die Rechtsprechung, daß der Lauf der Ausschlußfrist des § 93 Abs. 2 BVerfGG für unverändert gebliebene Bestimmungen nicht deshalb neu beginne, weil der Gesetzgeber sie erneut in seinen Willen aufgenommen habe, sei auf Verordnungen nicht anwendbar. Verordnungen seien schwächeres Recht und leichter anfechtbar als formelle Gesetze; das rechtsstaatliche Interesse an der Anerkennung ihrer Verbindlichkeit sei geringer. Eine verfassungsrechtliche Kontrolle wäre im vorliegenden Fall sonst ausgeschlossen.

Die Änderungsverordnung enthalte zudem eine neue Beschwer. Die Einfügung des Absatzes 2 in § 31 verschlechtere die Wettbewerbslage der Beschwerdeführer. Nach dem bisherigen Rechtszustand, dem der Bundesfinanzhof in seiner Rechtsprechung gerecht geworden sei, habe die Beteiligung einer Genossenschaft an einer Kapitalgesellschaft oder einer anderen Genossenschaft dazu geführt, daß ihr die Steuerbefreiung der KStDV versagt wurde. Dabei sei unwesentlich, daß die Finanzverwaltungen des Bundes und der Länder der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs nicht gefolgt, sondern den Genossenschaften trotz der Beteiligungen die Steuerbefreiung belassen hätten. Von Rechts wegen habe es vor dem Inkrafttreten der KStDV 1958 kaum eine Genossenschaft gegeben, die von der Steuerbefreiung Gebrauch machen konnte, da eine Genossenschaft von wirtschaftlicher Bedeutung regelmäßig an einer genossenschaftlichen Dachorganisation (Zentrale) oder an einer Kapitalgesellschaft beteiligt sei. Die Änderungsverordnung habe praktisch allen in Betracht kommenden Genossenschaften das Steuerprivileg zugesprochen.

Bei § 35 KStDV liege die neue Beschwer darin, daß die Änderungsverordnung den Begriff des Überschusses erläutert habe. Daß sie damit eine bereits bestehende Praxis der Finanzverwaltung rechtlich sanktioniert habe, stehe dem nicht entgegen; denn der wirkliche, vom Bundesfinanzhof geklärte Rechtszustand nach der KStDV 1955 habe dieser Praxis nicht entsprochen. Infolge der Zulassung der Abzugsfähigkeit der Warenrückvergütungen hielten die Genossenschaften den steuerpflichtigen Gewinn in der Regel gering und finanzierten ihren Warenumsatz und ihre Investitionen mit zinsfreien Kapitalien.

2. Außerdem greifen die Beschwerdeführer die auf Grund der angeblich nichtigen Bestimmungen ergangenen Veranlagungsbescheide zur Körperschaftsteuer von bestimmt bezeichneten Genossenschaften an, mit denen sie in Wettbewerb stünden, mit dem Antrag, die nach dem 11. August 1960 ergangenen Veranlagungsbescheide zur Körperschaftsteuer namentlich genannter Genossenschaften aufzuheben und die Finanzämter zu verpflichten, diese Genossenschaften ohne Anwendung der §§ 31 bis 35 KStDV 1958 erneut zu veranlagen.

Hilfsweise beantragen sie,

den Finanzämtern aufzugeben, die bezeichneten Genossenschaften, soweit sie zur Körperschaftsteuer noch nicht veranlagt sind, zu den vollen Sätzen des Körperschaftsteuergesetzes ohne Anwendung der §§ 31 bis 35 KStDV 1958 zu veranlagen.

Die Bundesregierung hält die Verfassungsbeschwerde für unzulässig.

B. – I.

Soweit die Verfassungsbeschwerde unmittelbar die durch die Verordnungen gegebene Regelung bekämpft, richtet sie sich dem Wortlaut ihres Antrags nach gegen die Körperschaftsteuer-Durchführungsverordnung in der Fassung vom 5. August 1959 (KStDV 1958). Diese ist jedoch als Bekanntmachung des Bundesministers der Finanzen kein Akt der Rechtsetzung, sondern stellt rein deklaratorisch den nunmehrigen Wortlaut in übersichtlicher Form und ohne inhaltliche Änderung klar; daher kann sie nicht selbständig mit der Verfassungsbeschwerde angefochten werden. Richtig verstanden bekämpft die Verfassungsbeschwerde die KStDV 1955 und die Änderungsverordnung. Gegen die KStDV 1955 ist sie jedoch nicht innerhalb der Jahresfrist des § 93 Abs. 2 BVerfGG erhoben; durch die – rechtzeitig angegriffene – Änderungsverordnung sind die Beschwerdeführer nicht erneut beschwert.

1. Der Ansicht der Beschwerdeführer, die Frist zur Anfechtung einer unverändert gebliebenen Bestimmung einer Verordnung beginne – im Gegensatz zu der vom Bundesverfassungsgericht geklärten Rechtslage bei einem formellen Gesetz – neu, wenn der Verordnunggeber sie gelegentlich der Änderung anderer Bestimmungen erneut in seinen Willen aufgenommen habe, kann nicht beigetreten werden. Ebensowenig wie bei einem formellen Gesetz kann bei einer Verordnung die erneute Aufnahme in den Willen des Normgebers eine neue Frist für die Erhebung der Verfassungsbeschwerde in Lauf setzen (BVerfGE 11, 255 [260]); auch für die Anfechtung einer Verordnung hat die Ausschlußfrist die Funktion, der Rechtssicherheit zu dienen. Demgegenüber ist es unwesentlich, daß Verordnungen im Rang unter dem Gesetz stehen und leichter geändert werden können.

Die Beseitigung der in den §§ 31 bis 35 KStDV 1955 den Genossenschaften gewährten Vergünstigungen können die Beschwerdeführer jedenfalls durch eine Verfassungsbeschwerde unmittelbar gegen die Verordnung nicht mehr erreichen.

2. Gegenüber diesen Vergünstigungen sind die Neuerungen in der Änderungsverordnung so unbedeutend, daß sie nicht ausreichen, um die Wettbewerbsfähigkeit der Beschwerdeführer gegenüber den Genossenschaften über das bisherige Maß hinaus zu mindern; die Änderungsverordnung bringt also keine neue Beschwer.

a) Der dem § 31 KStDV neu hinzugefügte Absatz 2 stellt eine in der bisherigen Regelung liegende Zweifelsfrage klar. Der Bundesfinanzhof hatte auch bei einer an sich geringfügigen Beteiligung die Steuerbefreiung versagt, wenn die Beteiligung „im Rahmen des Geschäftsbetriebs der Genossenschaft und im gesellschaftlichen und vertraglichen Zusammenschluß der Erzeuger, der Genossenschaften und der Kapitalgesellschaft eine ins Gewicht fallende Bedeutung” hatte (Urteil vom 21. Mai 1957 – BStBl. 1957 III S. 251). Demgegenüber waren die Finanzämter in der Regel großzügiger verfahren. Die Änderung zielt demnach nicht auf eine weitere Bevorzugung der Genossenschaften, vielmehr will sie einen klaren und praktikablen Rechtszustand schaffen, der im wesentlichen der Praxis der Finanzämter entspricht. Die hierin liegende Änderung der Rechtslage kann daher nicht so bedeutend sein, daß sie die Wettbewerbsfähigkeit der Beschwerdeführer in einer ins Gewicht fallenden Weise gemindert hätte.

b) § 32 KStDV 1955 wird durch die Änderungsverordnung nicht berührt.

c) Durch die Änderung der Vergünstigung der §§ 33 und 34 KStDV 1955 können die Beschwerdeführer nicht beschwert sein. Denn keiner von ihnen betätigt sich im Kreditgeschäft und kann daher mit den in den §§ 33 und 34 begünstigten Kreditgenossenschaften und Zentralkassen in einem Wettbewerbsverhältnis stehen.

d) Die Ergänzung des § 35 Abs. 2 KStDV 1955 durch die Änderungsverordnung soll wiederum nicht die Steuerfreiheit der Genossenschaften erweitern, sondern eine bei der Anwendung des Gesetzes aufgetretene Zweifelsfrage durch eine praktikable Regelung des Begriffs des Überschusses ausräumen, die sie aus den Körperschaftsteuer-Richtlinien übernimmt (KStR 1955 Abschn. 65 Abs. 7 – BStBl. 1956 I S. 243). Allerdings weicht der Verordnunggeber damit in gewissem Umfang von der Ansicht des Bundesfinanzhofs ab, es sei erforderlich, bei der Aufteilung der Warenrückvergütungen die dem Gewinn hinzugerechneten nicht abzugsfähigen Ausgaben wieder abzuziehen (Urteil vom 30. April 1957 – BStBl. 1957 III S. 219). Die Berechnung des Überschusses bei der Aufteilung der Warenrückvergütungen ist aber nur eine betriebswirtschaftlich-technische Einzelfrage. Die von der Änderungsverordnung gewählte Art der Berechnung mag gegenüber der von dem Bundesfinanzhof für richtig gehaltenen für die Genossenschaften auch allgemein vorteilhafter sein. Jedoch fehlt es für die Annahme, daß gerade dieser Vorteil die Wettbewerbsfähigkeit der Beschwerdeführer noch besonders in einem vernünftigerweise ins Gewicht fallenden Umfang beeinträchtige, an genügenden Anhaltspunkten.

Da die Verfassungsbeschwerde gegen die Verordnungen schon aus diesen Gründen unzulässig ist, braucht auf weitere Bedenken gegen ihre Zulässigkeit nicht mehr eingegangen zu werden.

II.

Auch die unter A II 2 wiedergegebenen Anträge sind unzulässig. Ein Steuerpflichtiger kann einen gegen einen Konkurrenten gerichteten Steuerbescheid nicht zum Gegenstand einer Verfassungsbeschwerde machen (BVerfGE 16, 25); ebensowenig kann er mit der Verfassungsbeschwerde erstreben, daß sein Konkurrent überhaupt zur Körperschaftsteuer herangezogen wird.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1721384

BVerfGE, 364

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