Entscheidungsstichwort (Thema)

Wiedereinsetzung in den vorigen Stand: Glaubhaftmachung der Postabsendung eines Strafgefangenen

 

Leitsatz (redaktionell)

Ist die von einer JVA prinzipiell geführte Briefkartei zur Dokumentation wichtiger Schriftstücke nicht mehr auffindbar, ist es dem Strafgefangenen aus Gründen, die in der Sphäre der Strafvollzugsbehörden liegen, nicht möglich, den Zeitpunkt, zu dem er seinen Schriftsatz zur Beförderung aufgegeben hat, glaubhaft zu machen. In diesem Fall reicht – ungeachtet der Zweifel an seinem Vorbringen – dessen eigene schlichte Erklärung als Glaubhaftmachung des Wiedereinsetzungsgrundes aus.

 

Normenkette

GG Art. 19 Abs. 4 S. 1, Art. 103 Abs. 1; StVollzG § 112 Abs. 1

 

Verfahrensgang

OLG Celle (Beschluss vom 03.02.1992; Aktenzeichen 1 Ws 10/92 (StrVollz))

LG Osnabrück (Beschluss vom 19.11.1991; Aktenzeichen 23 StVK 1525/90 L)

 

Gründe

Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen die Versagung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand.

I.

Der Beschwerdeführer verbüßt zur Zeit eine Freiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten. Im Jahr 1990 war er in der Justizvollzugsanstalt Lingen I untergebracht. Am 17. Juli 1990 wurde in seinem Haftraum eine Durchsuchung vorgenommen, bei der – nach dem Vorbringen des Beschwerdeführers – auch Korrespondenz mit seinem Verteidiger fotokopiert wurde. Hiergegen erhob der Beschwerdeführer am 19. Juli 1990 Widerspruch, der durch Bescheid vom 30. August 1990, dem Beschwerdeführer ausgehändigt am 7. September 1990, zurückgewiesen wurde. Mit Schriftsatz vom 20. September 1990, gerichtet an das Landgericht Osnabrück, Strafvollstreckungskammer mit Sitz im Amtsgericht Lingen, beantragte der Beschwerdeführer Feststellung, daß die Durchsicht und das Fotokopieren der Verteidigerpost bei der Haftraumdurchsuchung am 17. Juli 1990 rechtswidrig gewesen seien. Der Schriftsatz trägt einen Eingangsstempel des Amtsgerichts Lingen vom 24. September 1990. In seiner Stellungnahme vom 5. Oktober 1990 hierzu führte der Leiter der Justizvollzugsanstalt Lingen I aus, daß der Antrag nicht innerhalb der Zweiwochenfrist des § 112 Abs. 1 StVollzG gestellt und daher unzulässig sei. Die Strafvollstreckungskammer leitete diese Stellungnahme dem Beschwerdeführer am 23. Oktober 1990 zu. Mit Schreiben vom 31.Oktober 1990, beim Amtsgericht Lingen eingegangen am 1. November 1990, beantragte der Beschwerdeführer, ihm gemäß § 112 Abs. 2 StVollzG Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Zur Begründung führte er aus, er habe seinen Antrag am 20. September 1990 zum Postlauf gegeben. Die Post der Gefangenen in der Justizvollzugsanstalt Lingen I werde direkt per Kurier zum Amtsgericht Lingen befördert. Er habe daher davon ausgehen können, sein Schreiben werde spätestens am 21. September 1990 beim Amtsgericht Lingen eingehen.

Mit Beschluß vom 19. November 1991, dem Beschwerdeführer zugestellt am 3. Dezember 1991, wies die Strafvollstreckungskammer den Wiedereinsetzungsantrag als unbegründet und den Antrag auf gerichtliche Entscheidung nach § 109 Abs. 1 StVollzG als unzulässig zurück. In den Gründen des Beschlusses ist ausgeführt, die Verhinderung des Beschwerdeführers sei nicht hinreichend glaubhaft gemacht.

Mit Erklärung zu Protokoll des Amtsgerichts Celle vom 2. Januar 1992 erhob der Beschwerdeführer hiergegen gemäß § 116 Abs. 1 StVollzG Rechtsbeschwerde. Das Oberlandesgericht Celle wertete diesen Rechtsbehelf als eine nach den § 120 StVollzG, § 46 Abs. 3 StPO statthafte sofortige Beschwerde. Diese wies es als unbegründet zurück, weil es an der erforderlichen Glaubhaftmachung fehle. Der Beschwerdeführer habe sich insoweit auf Angaben der Beamten der Justizvollzugsanstalt Lingen I berufen können und müssen. Eine Gegendarstellung des Beschwerdeführers vom 21. Februar 1992 blieb ohne Erfolg.

Ausweislich einer Auskunft des Leiters der Justizvollzugsanstalt Lingen I wird bei der Beförderung von Gefangenenpost wie folgt verfahren: Auf den einzelnen Stationen gibt es keinen Hausbriefkasten. Die Gefangenen bringen an der Innenseite der Türe ihres Haftraums ein Behältnis an, in dem sie ausgehende Schreiben deponieren. Um 6.00 Uhr morgens beim Aufschluß werden diese Schreiben vom jeweiligen Stationsbediensteten eingesammelt und zur Poststelle gebracht. Briefe von Gefangenen, die an das Amtsgericht Lingen gerichtet sind, werden nicht zur Post aufgegeben, sondern von einem Bediensteten der Justizvollzugsanstalt direkt zum Amtsgericht befördert. Bei Briefen von Strafgefangenen an Gerichte, Rechtsanwälte und Petitionsstellen wird auf einer für jeden Gefangenen geführten Briefkarte das Datum erfaßt; der Gefangene hat daher die Möglichkeit, das Datum seiner Briefabgabe in der Justizvollzugsanstalt anhand dieser Briefkartei nachprüfen zu lassen. Die den Beschwerdeführer betreffende Briefkarte ist jedoch nicht mehr auffindbar.

II.

Der Beschwerdeführer rügt mit seiner Verfassungsbeschwerde eine Verletzung von Art. 19 Abs. 4 Satz 1 und Art. 103 Abs. 1 GG. Die angefochtenen Entscheidungen überspannten die Anforderungen, die im Rahmen des ersten Zugangs zu Gericht an die Voraussetzungen für die Wiedereinsetzung gestellt werden dürften. Er habe alles getan, was ihm möglich sei, um ein fehlendes Verschulden an der Versäumung der Frist des § 112 StVollzG glaubhaft zu machen. Auf Angaben von Bediensteten der Justizvollzugsanstalt Lingen I könne er sich nicht berufen, da die ausgehende Post in einen Hausbriefkasten geworfen werde; ein Postausgangsbuch werde in der Anstalt nicht geführt. Da die an das Amtsgericht Lingen gerichtete Post von einem Kurier befördert werde, habe er darauf vertrauen dürfen, daß sein am 20. September 1990 abgegebenes Schreiben spätestens am 21. September 1990 beim Amtsgericht Lingen eingehen werde.

III.

Das Niedersächsische Justizministerium hält die Verfassungsbeschwerde für unbegründet. Da es im September 1990 in der Justizvollzugsanstalt Lingen I keine Hausbriefkästen mehr gegeben habe, entspreche das Vorbringen des Beschwerdeführers, er habe seinen Schriftsatz vom 20. September 1990 an diesem Tag in den Hausbriefkasten eingeworfen, nicht den Tatsachen. Aus diesem Grund sei die schlichte Erklärung des Beschwerdeführers als Mittel der Glaubhaftmachung nicht ausreichend.

IV.

Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich begründet. Die angegriffenen Beschlüsse verletzen Art. 19 Abs. 4 Satz 1 und Art. 103 Abs. 1 GG.

Bei der Anwendung und Auslegung der für die Wiedereinsetzung maßgeblichen Vorschriften dürfen, soweit hiervon der „erste Zugang” zu Gericht abhängt, die Anforderungen daran nicht überspannt werden, was der Betroffene veranlaßt haben und vorbringen muß, um nach einer Fristversäumung Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu erhalten (st. Rspr.; BVerfGE 40, 88 ≪91≫; 41, 323 ≪326 f.≫; 54, 80 ≪84≫; 67, 208 ≪212 f.≫). Dies gilt auch für die Glaubhaftmachung des fehlenden Verschuldens. Daher kann in Ermangelung anderer zur Verfügung stehender Glaubhaftmachungsmittel ausnahmsweise auch die eigene schlichte Erklärung des Antragstellers zur Glaubhaftmachung zugelassen werden (Beschluß der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 22. Dezember 1988 – 2 BvR 1716/88 –; Löwe/Rosenberg/Wendisch, StPO, 24. Aufl., § 45, Rz. 21; offengelassen in BVerfGE 41, 332 ≪339 f.≫). Ein solcher Fall ist insbesondere dann gegeben, wenn bei behördlicher Beförderung von Schriftstücken Vorkehrungen geschaffen werden, durch die der Zeitpunkt der Aufgabe des Schriftstücks zur Beförderung dokumentiert werden soll, diese Vorkehrungen aber versagen und dem Bürger keine anderen Möglichkeiten der Glaubhaftmachung zu Gebote stehen. Denn das Versagen organisatorischer und betrieblicher Vorkehrungen, auf die der Bürger keinen Einfluß hat, darf ihm im Rahmen der Wiedereinsetzung nicht zur Last gelegt werden (BVerfGE 41, 23 ≪26≫; 53, 25 ≪29≫, zur Verzögerung der Postlaufzeit; BVerfGE 62, 216 ≪221≫ m.w.N., zum behördeninternen Abholdienst; zur Glaubhaftmachung bei Verlust eines mit Datumsstempel versehenen Briefumschlags im behördeninternen Bereich auch OLG Celle, Niedersächsische Rechtspflege, 1986, 280 f.; OLG Düsseldorf NStZ 1990, 149 f.).

Ein solcher Fall liegt hier vor. Der Poststempel scheidet, weil die Post zum Amtsgericht Lingen auf dem Dienstweg befördert wird, als Nachweis für den Absendezeitpunkt aus. Auch wenn entgegen dem Vorbringen des Beschwerdeführers in der Vollzugsanstalt Lingen I die ausgehende Post nicht in einen Hausbriefkasten geworfen, sondern von Bediensteten eingesammelt wird, ist nach der Lebenserfahrung nicht damit zu rechnen, daß sich diese nach einem längeren Zeitraum an den genauen Aufgabetag eines bestimmten Schriftstücks erinnern können. Da die von der Anstalt prinzipiell geführte Briefkartei, die gerade die Tatsache und den Zeitpunkt der Aufgabe von wichtigen Schriftstücken dokumentieren soll, nicht mehr auffindbar ist, ist es dem Beschwerdeführer aus Gründen, die in der Sphäre der Strafvollzugsbehörden liegen, nicht möglich, den Zeitpunkt, zu dem er seinen Antrag auf gerichtliche Entscheidung zur Beförderung aufgegeben hat, glaubhaft zu machen. Daher ist nach seiner schlichten Erklärung, die ungeachtet der Zweifel an seinem Vorbringen zum Vorhandensein eines Hausbriefkastens nicht als von vornherein unglaubhaft erscheint, davon auszugehen, daß er seinen Antrag am 20. September 1990 zur Beförderung aufgegeben hat.

Danach trifft den Beschwerdeführer an der Versäumung der Frist des § 112 Abs. 1 StVollzG kein Verschulden. Diese Frist hat am 8. September 1990 zu laufen begonnen und ist am 21. September 1990 abgelaufen. Da der Beschwerdeführer wußte, daß die Beförderung der Post von der Justizvollzugsanstalt zum Amtsgericht Lingen direkt per Kurier erfolgte, konnte er von einer üblichen Laufzeit von einem Tag ausgehen, also damit rechnen, daß sein am 20. September 1990 aufgegebenes Schreiben spätestens am 21. September 1990, und damit rechtzeitig, beim Amtsgericht eingehen würde.

Die angegriffenen Entscheidungen haben dies nicht hinreichend beachtet. Dem Beschluß des Landgerichts ist nicht zu entnehmen, wie der Beschwerdeführer die geforderte Glaubhaftmachung hätte bewerkstelligen sollen. Dem Beschluß des Oberlandesgerichts Celle liegt die – unzutreffende – Auffassung zugrunde, der Beschwerdeführer könne sich zur Glaubhaftmachung auf Bedienstete der Justizvollzugsanstalt berufen.

Die angefochtenen Entscheidungen beruhen auf dieser Überspannung der Wiedereinsetzungsvoraussetzungen. Es ist nicht ausgeschlossen, daß die Gerichte bei Beachtung der oben aufgezeigten verfassungsrechtlichen Maßstäbe das Wiedereinsetzungsgesuch als begründet angesehen hätten.

V.

Nach § 95 Abs. 2 BVerfGG sind die angegriffenen Entscheidungen aufzuheben. Es ist sachdienlich, die Sache an das Landgericht Osnabrück als das erstinstanzlich für die Bescheidung des Wiedereinsetzungsgesuchs zuständige Gericht zurückzuverweisen.

Die Entscheidung über die notwendigen Auslagen beruht auf § 34 a Abs. 2 BVerfGG.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

 

Fundstellen

StV 1993, 451

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